Jost Gippert
Neues zu „Slavisch st aus älterem pt?“
Nur wenige Fragen der historischen Lautlehre der slavischen Sprachen sind so
umstritten wie diejenige nach der möglichen Vertretung der uridg. Lautfolge *
pt
durch
st. In einem 1980 erschienenen Kurzbericht hat unser Jubilar das einschlägige Material einer Sichtung unterzogen, die ihn zu dem Ergebnis führte, es
handele sich bei dem „Lautwandel von idg./früh-urslav. *
pt →
st ... wohl um
keinen ausnahmslosen Lautwandel“; es bestehe jedoch „offensichtlich die Tendenz zu diesem Übergang“, und man werde daher
pt → st „als Regelfall ...
annehmen müssen“ (
Pohl 1980, S. 63). Eine diametral entgegengesetzte Auffassung vertrat bald darauf F.
Kortlandt, der in einer gewissermaßen postwendend veröffentlichten Replik konstatierte, es sei „clear from the material that *
p
was lost before
*t in Slavic“ (
Kortlandt 1982, S. 27). Angesichts der Tatsache,
dass das zurate gezogene Material bei beiden Autoren im wesentlichen dasselbe
ist, die Argumentation sich also auf die linguistische Methode beschränkt
1,
erscheint es gerechtfertigt, die Frage noch einmal aufzugreifen, nachdem sich
neue Gesichtspunkte ergeben haben.
Eines der Beispiele, die in der Diskussion um den möglichen Lautwandel
*pt →
st vorrangig berücksichtigt wurden, ist das durch aksl.
stryjь etc. repräsentierte
Wort für den `Onkel', genauer den `Bruder des Vaters'. Für dieses Wort stehen
zwei konkurrierende etymologische Verknüpfungen zur Verfügung. Im Sinne des
hier in Rede stehenden Lautwandels wäre es mit dem idg. Wort für den `Vater',
*ph2ter- zu verbinden, wobei eine
-u-haltige Ableitung wie im durch aind.
pitṛvyà-, avest.
tūiriia- und wohl auch ahd.
fatureo vertretenen Typ
(< *
pə2tṛ-u̯íi̯o-) zugrundegelegt werden
müsste.
2 Dieser semantisch bestens motivierten und durch außerslav. Parallelen gut gestützten Verknüpfung steht die
bereits 1894 von A.
Bezzenberger3 vorgeschlagene Identifikation von altsl.
stryj `patruus',
strynja `amita' mit lit.
strujus `Greis' und der kelt. Sippe um ir.
sruith `alt, ehrwürdig' entgegen, die die Annahme eines Lautwandels
pt → st
ausschließt, semantisch aber weit weniger evident erscheint, da die außerslav.
Formen keine Verwandtschaftstermini sind. Von einer allgemeineren Grundbedeutung `alt' ausgehend müsste das Slavische in diesem Falle also eine erhebliche Bedeutungsverengung durchgemacht haben, wobei insbesondere die Einschränkung auf die paternale Linie bemerkenswert bliebe. Eher denkbar wäre
demgegenüber noch eine umgekehrte Entwicklung, vom Verwandtschaftsterminus
`Vatersbruder' zu einem undifferenzierten `Alter' oder `Greis'.
Dass die letztgenannten Wortformen gemeinsam auf ein aus idg. Zeit ererbtes
Etymon zurückgehen können, mit dem ein bestimmtes Element eines patriarchalisch ausgerichteten Verwandtschaftssystems bezeichnet worden wäre, wird nun
durch einen bisher nicht in die Diskussion einbezogenen Zweig der Familie,
nämlich den iranischen nahegelegt. In den von ihm erstmalig wissenschaftlich
bearbeiteten Avestafragmenten, die im mittelpers.
Rivāyat des Ādurfarnbag und
Farnbag-Srōš enthalten sind, hat G.
Klingenschmitt das als hapax legomenon
nur hier belegbare Wort
stūirīm (Akk.Sg.) nachgewiesen, das das avest. Äquivalent von mittelpers.
stwlyh darstelle; letzteres sei das
-yh-Abstraktum des Terminus
stwl, womit derjenige bezeichnet werde, „der den Auftrag erhalten hat, für
einen ohne männliche Nachkommen Verstorbenen einen Sohn zu zeugen oder zu
gebären“
4. Mpers.
stwl selbst sei mit großer Wahrscheinlichkeit, wie auch viele
andere Termini des sasanid. Rechts, aus dem Avest. entlehnt, wobei theoretisch
eine Grundform *
stura/i- zugrunde liegen könnte; vorzuziehen sei jedoch eine
Verknüpfung mit aind.
sthū́ri, das (als Adj. bzw. neutrales Subst.) den `einspännigen' Wagen bezeichnet, wobei die vorauszusetzende Metaphorik möglicherweise
in dem mit Privativpräfix versehenen
asthūrí angedeutet sei, das in RV 6,15,19
auf den Haushalt bezogen gebraucht ist (`nicht einspännig' > `nicht nachkommenlos'?)
5.
Tatsächlich sind der üblicherweise als /stūr/ gelesene mpers. Terminus <stwl>
6
und das auf ihm beruhende Abstraktum <stwlyh>, trotz einer hohen Belegdichte
in juristischen und anderen Texten, alles andere als leicht zu erfassen. Während
in der Anfangszeit der Erforschung des Mittelpersischen die Bedeutungsangabe
`adoptierter Sohn' bzw. `Adoption' überwog
7, hat sich im Zuge der intensiveren
Beschäftigung insbesondere mit der Rechtssammlung der `tausend Gerichtsurteile'
(
Mādigān-i hazār dādestān) die auch im Wörterbuch von D.N.
MacKenzie
(1971, S. 78) niedergelegte Interpretation als `trustee, curator, guardian' (bzw.
`trusteeship') durchgesetzt; in der jüngst erschienenen Bearbeitung des
Mādigān
von M.
Macuch (1993) bleiben
stwr und
stwryh jedoch wieder unübersetzt. Um
einer Bedeutungsbestimmung näherzukommen, ist es deshalb sinnvoll, kurz die
gemeinte Rechtsinstitution zu umreißen.
Wie auch bei anderen altindogerm. Völkerschaften
8 war bei den Iraniern die Ehe
offenbar primär auf die Erzeugung männlichen Nachwuchses ausgerichtet, der
den Namen der Familie weitertragen und das Erbe des Vaters (und der Vorväter)
übernehmen sollte. Die Konzeption war dabei eindeutig patrilinear, d.h. die
Ehefrau trat mit der Eheschließung in den Hausstand des Ehemannes ein und
unterstand fortan der Haushaltsführung (mpers.
sālārīh) des Schwiegervaters
(oder eines anderen männlichen Angehörigen der Familie ihres Ehemannes), was
implizierte, dass sie gleichzeitig das eigene Elternhaus verließ
9. Durch das Fehlen von männlichem Nachwuchs konnten nun zweierlei Problemfälle eintreten:
Zum einen, wenn die Eltern der Ehefrau selbst keine männlichen Nachfahren
hatten und ihr Name und Erbe somit zu verfallen drohte; zum anderen, wenn die
eigene Ehe ohne Söhne blieb. Für diese Fälle musste das iranische Rechtssystem
eine Lösung vorsehen, die es ermöglichte, ersatzweise über die weibliche Linie
für männlichen Nachwuchs zu sorgen. Für die sohnlosen Eltern bestand sie darin,
ihre Tochter unter der Bedingung zu verehelichen, dass ein Teil (gemeinhin wohl
der erste) der aus dieser Ehe hervorgehenden Söhne als Stammhalter in ihre
eigene Familie zurückzugeben war; eine selbst ohne Sohn gebliebene Ehefrau
konnte unter der entsprechenden Bedingung in eine Stellvertreterehe eintreten. Es
versteht sich, dass in beiden Fällen der die Bedingung akzeptierende Ehemann
Abstriche gegenüber seinem eigenen Anspruch an männlichen Nachfahren machen musste; er übernahm mit der Frau, die er ehelichte, gewissermaßen die bis
dahin von ihr ausgeübte Treuhänderfunktion, die eine entsprechende Geldzuwendung implizierte
10 und deren Bruch als eine Todsünde galt
11. `Stellvertreter'
12 oder `Treuhänder'
13 erscheint also als eine angemessene Übersetzung des
Terminus <stwl>.
Für unsere etymologische Fragestellung ist es nun relevant, dass nicht beliebige
Personen geeignet waren, die `Treuhänderschaft' zu übernehmen. Normalerweise
kamen zunächst nur engste Verwandte in Betracht. Für den (wahrscheinlich
besonders häufigen) Fall, dass jemand ohne Sohn verstorben war, sieht das
Dādestān-i dēnīg zunächst die eigene Tochter (die dann einen geeigneten Mann
aus der nächsten Verwandtschaft zu ehelichen hatte), dann u.a. die Tochter des
Bruders oder den Sohn des Bruders als <stwl> vor
14. Für den Fall, dass die
Witwe eines Verstorbenen selbst einen Mann für eine Stellvertreterehe benötigte,
dürfte, auch wenn dies offenbar nirgends explizit gesagt wird, wie auch in anderen Kulturen der Bruder des ohne Söhne gebliebenen Ehemannes der bestgeeignete Ersatzehemann gewesen sein; das iranische Recht dürfte hierin mit dem
Leviratsrecht
15 des Alten Testaments
16, aber auch mit der aind. Institution des
niyoga übereingestimmt haben, über das in den spät- und postved. Dharmasūtras
ausführlich gehandelt wird
17. Nun ist ein
lēvir- aus der Sicht der Witwe natürlich ein Schwager, kein Onkel; aus der Sicht der Kinder ist es jedoch der Bruder
des (rechtlichen, nicht natürlichen) Vaters.
Es erhebt sich somit die Frage, ob das in mpers. <stwl> vorliegende Etymon
ursprünglich im Sinne eines Verwandtschaftsterminus den `Vatersbruder' bezeichnet haben und somit eine Kognate der Sippe um slav.
stryjь darstellen kann.
Die Beantwortung dieser Frage setzt zunächst eine Klärung der lautlichen Verhältnisse voraus. Wenn G.
Klingenschmitt mit der Vermutung recht hat, dass
das mpers. Wort eine Entlehnung (
mot savant) aus dem avest.
*stūirīm darstellt,
wäre von einer durch die Schreibung <stwl> ohne weiteres abgedeckten mpers.
Lautung
stūr auszugehen. Dem scheint zunächst jedoch die Pāzend-Überlieferung
zu widersprechen, die an der Stelle von mpers. <stwl> üblicherweise <star>
schreibt
18; hiermit im Einklang scheint des weiteren auch die npers. Parsentradition zu stehen, die ausschließlich die Schreibung <str> kennt
19. Dieser Befund
lässt sich dahingehend interpretieren, dass neben der „avestisierenden“ mpers.
Schrifttradition eine mündliche Überlieferung existiert haben könnte, die eine
echt-pers. (nicht „avestisierende“) Lautung bewahrt hätte; als Lesung der npers.
Graphie käme z.B. /stur/ in Betracht, wobei die Pāzend-Graphie <star>
20 auf
einer von der lautlichen Tradition unabhängige Retranskription der npers. Graphie
beruhen müsste. Wahrscheinlicher ist demgegenüber jedoch, dass der npers. wie
auch der Pāzend-Schreibung eine volksetymologische Umdeutung zugrundeliegt,
durch die das mpers. <stwl> an das lautlich anklingende und semantisch naheliegende Wort
starwan `unfruchtbar' angeglichen wurde
21. Npers. <str> (und Pāzend
star) können also nicht als zuverlässige Zeugen für die Lautung des mpers.
Wortes bzw. seine etymologische Herleitung gelten.
Weiterführende Evidenz lässt sich demgegenüber eventuell aus einem Nebenüberlieferungszweig des Iranischen gewinnen. In einer der iranischen Rechtsterminologie gewidmeten Einzeluntersuchung (1970, S. 357) hat A.
Perikhanian vorgeschlagen, mpers. <stwl> mit dem armen. Wort
strowk, Substantiv der Bedeutung `Diener, Sklave', zu verbinden. Auf den ersten Blick scheint dieses in der
Tat mit einer allzu „abweichenden Bedeutung und Lautgestalt“ ausgestattet zu
sein, um als Kognate in Betracht zu kommen
22. Eine Durchsicht der Belege in
der armen. Bibelübersetzung liefert aber einen durchaus bemerkenswerten Befund:
strowk, das in der Bedeutung `Diener' mit
car̄ay konkurriert, erscheint
bevorzugt dann, wenn der griech. Bibeltext nicht δοῦλος, sondern οἰκέτης hat
23.
Besonders aufschlussreich sind dabei Stellen wie Deut. 15,12-17, die zeigen, dass
strowk im Sinne von `Diener' offensichtlich besonders gut verwendbar war, wenn
damit zum eigenen Haushalt gehörende, aber unterprivilegierte Verwandte gemeint waren; denn es geht an der gegebenen Stelle gerade um `versklavte Brüder'
(ed.
Cox 1981, S. 140 f.):
Ew etՙē vačar̄escՙi kՙez ełbayr kՙo ebrayecՙi kam kin ebrayecՙi car̄ayescՙē kՙez zvecՙ
am ew yamin ewtՙnerordi arjakescՙes zna azat í kՙēn: ew yoržam arjakicՙes zna azat
í kՙēn. očՙ arjakescՙes zna ownayn` ayl handerjelóv handerjescՙes zna yočՙxaracՙ
kՙocՙ. ... áp etՙē asicՙē cՙkՙez óčՙ elanem i kՙēn zi sireacՙ zkՙez ew ztown kՙo zi bari
icՙē nma ar̄ kՙez, tacՙes heriwn ew cakescՙes zownkn nora i veray semocՙ tann ew
ełicՙi kՙez strowk yawitean: ew załaxinn kՙo nóynpēs arascՙes. „Und wenn sich dein
hebräischer Bruder an dich verkauft oder eine hebräische Frau dir sechs Jahre
(lang) dient, so sollst du ihn im siebten Jahr von dir freigeben; und wenn du ihn
von dir freigibst, so sollst du ihn nicht ohne (Lohn) freigeben, sondern sollst ihm
von deinen Schafen Anteil geben ... Sollte er jedoch zu dir sagen, `ich gehe nicht
von dir, denn ich habe dich und dein Haus liebgewonnen,' weil du gut zu ihm
warst, so nimm einen Pfriem und durchbohre (damit) sein Ohr über der Schwelle
deines Hauses, und er soll dein strowk auf ewig bleiben; und deine Magd behandele ebenso.“
Dass dies eine entscheidende Konnotation des Wortes gewesen sein dürfte,
erweist sich darüber hinaus an einem weiteren Nebenüberlieferungsstrang. Das
armen. Wort ist nämlich offensichtlich seinerseits ins Georgische entlehnt worden, wo seine Entsprechung
sṭruḳ-i lautet (Nom.Sg.). Innerhalb der Bibelübersetzung ist dieses Wort bisher nur éinmal belegbar, nämlich in Jer. 2,14
24, wo
es tatsächlich als Äquivalent von armen.
strowk auftritt; dieser Beleg ist zugleich
auch für die Bedeutungsbestimmung aufschlussreich, da die beiden Wörter hier
einem οἰκογενής der Septuaginta entsprechen:
georg.:
monay nu ars israēli, anu sṭruḳi ars iaḳobi, rametu saṭq̇uenvel ikmna.
armen.:
Mitՙē car̄ay? icՙē i(sray)ēl, kam strowk? yakob, zi ełen yawar.
LXX: Μὴ δοῦλός ἐστιν Ισραηλ ἢ οἰϰογενής ἐστιν; διὰ τί εἰς προνομὴν ἐγένετο;
Bemerkenswerterweise steht griech. οἰκογενής an anderen Belegstellen im AT
weder armen.
strowk noch georg.
sṭruḳ-i gegenüber; auch nicht in Gen. 15,3, wo
das Wort in einem Kontext erscheint, der für die Frage nach der Bedeutung des
präsumptiven iran. Etymons von
strowk / sṭruḳ-i einschlägig wäre, da es hier um
Ersatz für die fehlende Stammhalterschaft des selbst kinderlos gebliebenen
Abraham geht: ϰαὶ εἶπεν Αβραμ ᾽Επειδὴ ἐμοὶ οὐϰ ἔδωϰας σπέρμα, ὁ δὲ οἰϰογενής μου ϰληρονομήσει με. Die georg. Bibel hat hier – wie auch sonst meist
für οἰκογενής – in allen ihren Redaktionen
25 die Zusammenrückung
saxlis-c̣ul-i,
wtl. `Haus-Kind'; daneben begegnet bisweilen auch das ebenso gebildete
saxlis-našob-i, wtl. `Haus-Geborenes'
26. Im armen. Text der Zohrab-Bibel finden
wir in Gen. 15,3 und den übrigen Belegstellen durchweg
əndoycin, wtl. etwa
`innen geboren'
27. Hieraus ergibt sich nicht nur ein deutlicher Hinweis auf die
Abhängigkeit der georg. von der armen. Jeremia-Übersetzung, sondern auch
darauf, dass
sṭruḳ-i im georg. Text der armen. Vorlage zu verdanken ist
28.
Eine ebenso gute Evidenz ergibt sich auch aus dem einzigen bisher verfügbaren
Beleg von georg.
sṭruḳ-i außerhalb der Bibelübersetzung. Es handelt sich um die
im Lexikon von Sulxan-Saba Orbeliani (Ende 17. Jh.) erfasste Stelle aus der
„Grabrede vom Nyssener für Meletios“, d.h. der Grabrede Gregors von Nyssa für
Meletius, Bischof von Antiochien. Hieraus zitiert Saba den Satz
q̇ovelnive aznaurtagani šobilni da aravin ars amatgani sṭruḳ, arca gangdebuli29, der offensichtlich das ἐξ ἐλευϑέρας οἱ πάντες, οὐδεὶς νόϑος οὐδὲ ὑπόβλητος des griech.
Textes
30 wiedergibt: „Sie (i.e. die biblischen Patriarchen) sind alle von Adel
(geboren), keiner (von ihnen) ist ein Bastard oder ein Ausgestoßener“. Der
Lexikograph, dem der griech. Text offensichtlich unbekannt war, war sich über
die Bedeutung von
sṭruḳ-i nicht sicher; er notierte: „Dieses
sṭruḳi bezeichnet (wtl.
`ist') etwas nichtiges, schlechtes, verwahrlostes, fehlerhaftes, armes, oder (auch)
ein Haus-Geborenes, etwas von niedrigem Stand“
31. Lediglich in éiner der autographischen Hss. seines Lexikons (E) fügte Saba im Zusammenhang mit der
erwähnten Stelle aus dem Werk Gregors von Nyssa hinzu:
buši mgonia, d.h.
„(es) scheint mir `Bastard' (zu bedeuten)“.
Wenn mit der Gleichung georg.
sṭruḳ-i (= armen.
strowk) ≈ griech. νόϑος eine
Bedeutung `Bastard, rechtloses Kind in der Hausgemeinschaft > Diener, Sklave'
wahrscheinlich gemacht werden kann, so ergibt sich hieraus tatsächlich die Möglichkeit eines Anschlusses an die Sippe um mpers. <stwl>: Unter der Voraussetzung, dass armen.
strowk zunächst so etwas wie ein `Stellvertreterkind' bedeutet hat, könnte es eine
-ka-Ableitung desselben Etymons darstellen. Bemerkenswert ist dabei noch, dass das bei Gregor von Nyssa neben νόϑος `Bastard'
verwendete griech. ὑπόβλητος mit seiner Grundbedeutung `ersatzhaft, stellvertretend' durch georg.
gangdebul-i `ausgestoßen' kaum adäquat wiedergegeben ist,
während es sich mit der Bedeutungssphäre von mpers. <stwl> weit besser deckt.
Die Verknüpfung von avest.
*stūiriia- (so der mutmaßliche Stamm des allein
überlieferten Akk.Sg.
stūirīm) und seinem mpers. Imitat <stwl> mit armen.
strowk und georg.
sṭruḳ-i birgt natürlich ein lautliches Problem, das nicht unerheblich ist, nämlich die unterschiedliche Abfolge der Liquida und des
u-Vokals.
Tatsächlich ist ein Nebeneinander von
ru und
ur mit kurzem
u im Iranischen
(und Indoiranischen) häufig bezeugt; erinnert sei nur an verschiedene Derivate
des Zahlworts `vier', bei denen einem aind.
-ur- oder
-uš- ein avest.
-ru- gegenübersteht (z.B. avest.
caϑruš `viermal' vs. aind.
catúṣ < *
caturš oder avest.
caϑrudasa- `vierzehnter' vs. aind.
cáturdaśa `vierzehn'). Ausgangspunkt des
zugrundeliegenden Prozesses ist in allen Fällen vermutlich eine uridg. Konstellation */-ur-/, die in der Stellung vor Vokal als [-ur-] (mit silbischem
u) realisiert
wurde, in der Stellung vor Konsonant jedoch als [-u̯r̥-],
32 das fakultativ mit
[-ru-] wechseln konnte. Für die entsprechende Lautfolge mit langem
ū scheint,
unabhängig von dessen eigener Herkunft, eine solche Metathese demgegenüber
bisher unbekannt zu sein. Nun ist es jedoch alles andere als sicher, dass das in
avest.
stūirīm vorliegende
ū authentisch, d.h. als solches ererbt ist. Zu verweisen
ist wiederum auf die Sippe um das Zahlwort für `vier', als dessen Ordinale im
Avest. eine Bildung
tūiriia- (Akk.
tūirīm) erscheint, deren
-ū- offensichtlich einer
sekundären inneravest. Längung zu verdanken ist (< uriir. *
turīi̯a- < uridg.
*
kwtur-iH-i̯o-, ≈ aind.
turī́ya-). Die durch die
mater lectionis in mpers. <stwl>
angedeutete Länge ist demgegenüber in etymologischer Hinsicht nicht aussagekräftig, wenn, wie oben angedeutet, das mpers. Wort nicht urverwandt ist, sondern seinerseits auf dem avest. beruht; in diesem Fall bestätigt es lediglich, dass
hinter der avest. Graphie mit
-ū- eine phonetische Realität stand, wobei zu
berücksichtigen ist, dass die Verschriftung des Avestischen ja ihrerseits erst in
sasanid. Zeit erfolgte.
Nicht aussagekräftig für eine Länge des
u sind auch die armen. und die georg.
Derivate, da beide Sprachen keine Längenopposition bei Vokalen kennen
33.
Denkbar wäre allenfalls, dass sich hinter der armen. Wortform ein ursprüngliches
*
stū̆r-ū̆k- verbergen könnte, dessen erstes
ū̆ von der auch in älteren iran. Lehnwörtern regelmäßig zu beobachtenden Vokalschwächung betroffen worden wäre.
In diesem Fall wäre als Resultat jedoch eine Reduktion zu
-ə- zu erwarten, das,
auch wenn es im Armen. nicht geschrieben würde, in einer georg. Weiterentlehnung eine Spur hinterlassen haben müsste
34; georg.
sṭruḳ-i zeigt aber nichts
dergleichen. Noch eindeutiger wäre der Befund durch georg.
sṭruḳ-i, wenn sich
nachweisen ließe, dass dieses nicht über das Armen., sondern unmittelbar aus
dem Mitteliranischen entlehnt wurde; um diesen Nachweis zu führen, reicht
jedoch die Belegmasse nicht aus. Aus armen.
strowk und georg.
sṭruḳ-i lässt sich
also lediglich die phonotaktische Struktur der mitteliran. Ausgangsform erschließen (
*strū̆k-), nicht jedoch die Vokalquantität. Als sekundäres Indiz für eine
ursprüngliche Lautung mit kurzem
-ur- bleibt somit innerhalb des Iranischen nur
die npers. Graphie <str> aus den parsischen Rivāyats bestehen, die nach dem
oben gesagten jedoch nicht sicher verwertbar ist.
Die inner- und außeriran. Evidenz lässt es somit unentscheidbar, ob das zuerst in
avest.
stūirīm bezeugte Etymon ursprünglich ein langes oder ein kurzes
u aufzuweisen hatte. Das gleiche Dilemma zeigt sich nun auch, wenn man die slav.
Sippe um
stryjъ und ihr mutmaßliches lit. Pendant genauer untersucht. Tatsächlich lassen die in den slav. Sprachen bezeugten Formen, süd- und westslav.
stryjь35 vs. russ.
strъjь/strojь, zweierlei Deutung zu: Ausgangsform kann ein
urslav.
*strъjъ, also quasi *
struju/o- gewesen sein (mit regulärer Entwicklung von
-ъj- > russ.
-oj-, sonst
-yj-), aber auch ein ursprüngliches *
-yj- könnte im Russ.
-ъj- >
-oj- ergeben haben (wie im Falle von
kryti vs.
kroju < *
krъju)
36. Entscheidende Bedeutung scheint im gegebenen Fall deshalb der Evidenz der litauischen
Entsprechung beigemessen worden zu sein, die gemeinhin in der Form
strūjus
zitiert wird
37.
Nun ist diese Evidenz allerdings keineswegs so tragfähig, wie sie auf den ersten
Blick scheint. Zunächst bleibt festzuhalten, dass als heutige schriftsprachliche
Form in den Wörterbüchern
strùjus, mit kurzem akzentuiertem
u, verzeichnet
ist
38; neben dieser Wortform, deren Bedeutung mit `Onkel'
39 oder `Großvater'
40 angegeben wird, ist bisweilen
strūjus mit langem
u als Variante notiert
41.
Lediglich in Ernst
Fraenkels etymologischem Wörterbuch werden
strūjus und
strùjus als gleichberechtigte Lemmata geführt, denen der Autor auch unterschiedliche Bedeutungen zuweist (`Großvater, Greis' für
strūjus und `Onkel, Oheim' für
strùjus)
42. Der für die Lautung
strūjus beanspruchte erste (und wohl einzige)
ältere Textbeleg entstammt dem Katechismus von Daukša
43, wo der Nom.pl. des
Wortes in der Schreibung
strûjus erscheint; dabei dürfte es sich um einen der
zahlreichen Dialektismen in Daukšas Text handeln, was sich nicht zuletzt daran
zeigt, dass das Wort durch
diedȧi glossiert ist
44. Dass
strûjus bei Daukša ein
langes (erstes)
ū aufgewiesen hat, ist nun freilich wiederum nicht ganz sicher.
Zwar scheint der (spitze) Zirkumflex in Daukšas Katechismus üblicherweise
betonte Langvokale zu bezeichnen (im Gegensatz zum Akut, der meist akzentuierte Kurzvokale markiert), doch erbringt schon eine kursorische Durchsicht
genügend Gegenbeispiele (v.a. mit Wechselformen wie
dûßią 27,6 vs.
dúßią
28,11 Akk.Sg. `Seele' [poln.
duszę],
padâre 48,9 vs.
padáre 48,5 3.Ps.Prt. `hat
gemacht' oder
ʒ́mônaes 38,7 vs.
ʒ̇mónes 20,8 Nom.Pl. `Menschen'), so dass die
gegebene Notation gerade bei einem
hapax legomenon nicht als Kronzeuge
dienen kann
45.
Unabhängig von der Beurteilung des Belegs bei Daukša bleibt fraglich, wie das
– synchron als dialektal zu erfassende – Nebeneinander von
-ū- und
-u- zu
deuten ist. A priori kann es jedenfalls nicht als sicher gelten, dass das bisher als
primär angesehene
strūjus gegenüber
strùjus größeren Anspruch auf Authentizität
erheben kann. Es kommt hinzu, dass das Wort innerhalb des Balt. anderweitig
offenbar nicht bezeugt ist, so dass, wie im Falle des bei Daukša als Synonym zur
Glossierung benutzten
diẽdas neben schriftspr.
dė̃dė46, auch die Möglichkeit
einer (doppelten) Entlehnung aus dem Slav. ins Lit. zu erwägen bleibt. In diesem
Fall könnte
strūjus die poln. Varietät vertreten
47, während
strùjus, sofern es
nicht einem innerlit. Wandel zu verdanken ist, eine ostslav. Quelle haben könnte.
Das in den slav. Sprachen selbst gegebene lautliche Dilemma bliebe somit bestehen
48.
Eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich der ursprünglichen Lautung käme nun
den kelt. Wortformen zu, die als Kognaten von slav.
stryjъ und lit.
strūjus angesehen worden sind. Unter der Voraussetzung, dass air.
sruith (
i-Stamm) tatsächlich auf ein mit
stryjъ etc. verwandtes *
struti- zurückgeht, fänden wir hier einen
eindeutigen Hinweis auf ein ursprüngliches kurzes
u (im Irischen gäbe es in der
gegebenen Konstellation keinen Grund für eine sekundäre Kürzung). Hinsichtlich
der Bedeutung des Wortes ist festzuhalten, dass es nicht allein als Adjektiv
verwendet auftritt, sondern, v.a. im Plural, vielfach auch als Substantiv der
Bedeutung `Ältere, Eltern, Vorväter, Honoratioren'
49. Damit lässt sich nicht nur
die Verknüpfung mit lit.
strū̆jus im Sinne von `Greis, Alter' in Einklang bringen,
sondern auch diejenige mit den anderen hier zusammengestellten Termini. Berücksichtigt man, dass das vorauszusetzende *
stru-ti- ein Abstraktsuffix enthält,
so bleibt denkbar, dass der der Ableitung zugrundeliegende Stamm, gleichsam als
gemeinsames Etymon der gesamten Wortsippe, ein Verwandtschaftsterminus
gewesen ist, der so etwas wie den `Angehörigen des Familienrats' bezeichnet
haben könnte; innerhalb der für die altidg. Völker vorauszusetzenden patriarchalisch-patrilinearen Familienorganisation dürfte sich dieser im wesentlichen aus
den männlichen Nachfahren des Familienoberhaupts zusammengesetzt haben.
Eine genaue Rekonstruktion des Ausgangsworts ist aufgrund der lautlichen
Probleme, die oben umrissen wurden, freilich noch nicht möglich; man wird sich
vorerst mit dem Ansatz einer Quasi-Wurzel
*stur- / stru- begnügen müssen,
50
von der aus mit Suffixen wie *
-i̯o- oder *
-i̯u-,
-ii̯o- (< *
-iHo-?),
-ko- oder
-ti-
Derivate gebildet werden konnten. Als Kronzeuge für eine Lautentwicklung
*pt
→
st entfällt die Sippe jedoch in jedem Fall.
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