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Dies ist eine Internet-Sonderausgabe des Aufsatzes
„Ein persisch-türkisches Zählsystem beim Würfelspiel“
von Jost Gippert (1985).
Sie sollte nicht zitiert werden. Zitate sind der
Originalausgabe in
„XXIII. Deutscher Orientalistentag vom 16. bis 20. September 1985 in Würzburg: Ausgewählte Vorträge“,
hrsg. v. Einar von Schuler, Stuttgart 1989, 259-273
zu entnehmen.

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This is a special internet edition of the article
„Ein persisch-türkisches Zählsystem beim Würfelspiel“
[„A Persian-Turkic counting system used in dicing“]
by Jost Gippert (1985).
It should not be quoted as such. For quotations, please refer to the original edition in
„XXIII. Deutscher Orientalistentag vom 16. bis 20. September 1985 in Würzburg: Ausgewählte Vorträge“,
ed. Einar von Schuler, Stuttgart 1989, p. 259-273.




Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved:
Jost Gippert, Frankfurt 2000-2001











EIN PERSISCH-TÜRKISCHES

ZÄHLSYSTEM BEIM WÜRFELSPIEL*


Von Jost Gippert, Berlin


      0.1. Es gehört zu den sicheren Erkenntnissen der historischen Sprachwissenschaft, daß die Grundzahlwörter einer Sprache dem ältesten Stratum innerhalb des Wortschatzes angehören und deshalb in besonderem Maße dazu geeignet sind, sprachvergleichenden Untersuchungen zu dienen. Die ererbten Zahlwörter erweisen sich normalerweise auch dann als besonders resistent, wenn sich die interne Struktur des Zählsystems durch äußere Einflüsse, sog. sprachliche Interferenzen, verändert. So ist z.B. im Laufe der französischen Sprachgeschichte das ererbte Dezimalsystem des Lateinischen zurnindest teilweise durch ein Vicesimalsystem abgelöstworden, zur Bildung der Zahlen nach dem neuen Muster wurden jedoch die ererbten Zahlwortformen verwendet: frz. quatre vingt „achtzig“ steht zwar dem echt lat. octōgintā gegenüber, enthält aber dennoch die lat. Elemente quattuor „vier“ und vīgintī „zwanzig“.
      0.2. Nur im seltensten Falle läßt sich nachweisen, daß eine Sprache ihr Zahlwortsystem komplett, d.h. einschließlich der tatsächlichen Wortformen, aus einer anderen Sprache entlehnt hat. Solches gilt z.B. für das heutige Japanische, wo die ererbten Kardinalia weitgehend durch ihre chinesischen Entsprechungen verdrängt worden sind; man vgl. die folgenden Formen1:


   echt jap.:  „sinojap.“:  heut. chin.:  rekonstr.:  
 1:  hito-tsu  ichi  i  jət  
 2:  futa-tsu  ni  er  ńźi  
 3:  mi-ttsu  san  san  sâm  
 4:  yo-ttsu  shi  si  si  
 5:  itsu-tsu  go  wu  ŋuo  usw.


      Dieser Sonderfall ist auf dem Hintergrund eines mehrere hundert Jahre währenden Kultureinflusses zu sehen, den das Chin. auf das Jap. ausgeübt hat, und durch den auch andere Bereiche des jap. Sprachsystems geprägt werden: Tatsächlich existiert im heutigen Jap. zu jedem autochthonen Wort eine „sinojap“. Entsprechung, die als stilistische Variante in „höherstehenden“ Kontexten gebraucht wird; diese Verteilung galt zunächst auch bei den Zahlwörtern.    
      0.3. Häufiger ist zu beobachten, daß Zahlwörter in einem bestimmten, fest umrissenen Kontext entlehnt werden. Ein solcher Fall ist z.B. im Kontakt iranischer und türkischer Sprachgemeinschaften am Nordrand des Kaukasus aufgetreten: Wie der sowjetische Sprachwissenschaftler V.I. Abaev festgestellt hat, kennen die türkischen Balqarer neben ihren ererbten eigenen Zahlwörtern ein zweites, „paarweises“ Zählsystem, das sie ausschließlich in der Viehzucht verwenden und das auf dem Zählsystem ihrer iranischen Nachbarn, der Osseten, beruht; die Zahlen lauten2:

   balqar.  < osset. (digor.),  vgl. osset. (iron.)  
 2:  dua  duwæ  dɨwwæ  
 4:  čipar  cuppar  cɨppar  
 6:  ɨxsɨz  æxsæz  æxsæz  
 8:  as  ast  ast  usw.


      Die Umstände lassen nur einen Schluß zu, nämlich daß die Balqarer die Zahlen mitsamt der Herdentierhaltung selbst von den Osseten übernommen haben; eigentlich liegt nicht die Entlehnung eines Zählsystems vor, sondern die Übernahme eines neuen Vorrats von Realien, die mit ihren vorgegebenen sprachlichen Etiketten belegt blieben. Um einen ähnlich gelagerten Fall soll es auch im Folgenden gehen, wobei wir uns weiter im Bereich des iranischen und türkischen Sprachkontakts bewegen.
      1.1. Das beliebteste und verbreitetste Gesellschaftsspiel im Vorderen Orient ist neben dem Schach das Brettspiel, das bei den Persern nard, bei den Türken meist tavla genannt wird. Bei diesem Spiel versuchen zwei Gegner, einen Satz von je 15 gleichwertigen Spielsteinen auf einem vorgegebenen Plan von einer festen Ausgangsposition aus an ihr Ziel zu bringen, wobei die Züge durch zwei Würfel bestimmt werden. Wenn eine Spielfigur auf ein Feld gelangt, wo sich ein alleiniger Stein des Gegners befindet, so wird dieser „gefangengenommen“ und muß seinen Weg neu antreten. Spielplan und Grundaufstellung können schematisch wie folgt dargestellt werden3:









      1.2. Varianten dieses Spiels sind bereits seit der Antike auch in Europa anzutreffen, allerdings wurden hier zunächst meist drei Würfel verwendet4. Wie die Benennungen des Spiels in den verschiedenen Sprachen zeigen, dürfte sich diese Variante vom römischen Kulturkreis aus verbreitet haben: der lat. Name tabula, ursprünglich die Bezeichnung des Spielbretts, findet sich nicht nur in den diversen romanischen Sprachen wie z.B. im altfrz. tables wieder, sondern auch im griech. τάβλη, im mhd. wurfzabel und im irischen táiplis; letztlich liegt das lat. Wort auch dem türk. tavla zugrunde, wobei wohl erst ital. tavola, dann arab. ﺔﻟﻭﺎﻃ vermittelt hat5.

      1.3.1. Das pers. nard hat der Überlieferung zufolge eine mehr als tausendjährige Geschichte: Über seine Entstehung berichtet eine Legende, die in dem mpers. Mādigān-ī čatrang6 und in Firdausīs Šāhnāme7 niedergelegt ist und die sich wie folgt liest:
Der indische Rāja Dewsārm8 sendet dem Sasanidenkönig Xusraw Anōšak Ruwān (Kasrā Nōšīrawān) das soeben erfundene Schachspiel mit der Aufforderung, die Aufstellung der Figuren und die Spielzüge zu entschlüsseln. Der Sasanide vermag die Aufgabe nicht zu lösen, wohl aber sein Minister Wazurgmihr (Būzurǰmihr). Dieser erfindet nun seinerseits ein Brettspiel, das er mit der entsprechenden Aufforderung nach Indien senden läßt; der Rāja findet die Regeln nicht heraus und wird dem Sasaniden tributpflichtig.

      Während im Sāhnāme keine genaueren Angaben über Aufbau und Regeln enthalten sind – das Spiel wird zwar nard genannt, gleichzeitig aber als šatranǰwār „schachähnlich“ bezeichnet9 – bietet das Mādigān-ī čatrang immerhin einige Details, aus denen hervorgeht, daß tatsächlich ein Vorläufer des heutigen nard gemeint ist10: Hier ist zunächst von einem Spielbrett (taxtag) und 30 Spielsteinen (muhrag) die Rede, die sich in 15 weiße und 15 schwarze aufteilen11; von Bedeutung ist darüber hinaus die folgende Stelle, wo das sonst offenbar unbelegte mpers. gardānāg erscheint12:

ēk abar gardānāg-ēw owōn homānāg kunēm kū Ohrmazd ēk ast, har nēkīh ōy dād. dō ēdōn homānāg kunēm čiyōn mēnōg ud gētīg. sē owōn homānāg kunēm čiyōn humat ud hūxt ud huwaršt ud mēnišn ud gōwišn ud kunišn. čahār owōn homānāg kunēm čiyōn čahār āmēzišn kē mardōm az-iš u-š čahār sōg-ī gētīg, xwarāsān ud xwarwarān ud nēmrōz ud abāxtar. panǰ owōn homanāg kunēm čiyōn panǰ rōšnīh, čiyōn xwaršēd ud māh ud stārag ud ātaxš ud warzag-ī az asmān āyēd. šaš owōn homānāg kunēm čiyon dādan-ī dām-ī pad šaš gāh-ī gāhānbār.


      Nachdem Wazurgmihr vorher bereits das Spielbrett mit der Erde und die 30 Spielsteine mit den 30 Tagen eines Monats identifiziert hat, erläutert er seinem König hier offenbar die Bedeutung der sechs verschiedenen Seiten des Würfels, den sein Spiel verwendet:

Die Eins auf dem Würfel mache ich dem gleich, daß Ohrmazd eins (einzig ?) ist: alles Gute hat er geschaffen. Die Zwei mache ich gleich (dem Dualismus) der geistigen und der materiellen Welt. Die Drei mache ich gleich wie (die Dreiheit) „guter Gedanke, gute Rede und gute Tat“ und „Denken, Sprechen und Handeln“. Die Vier mache ich gleich den vier Essenzen, aus denen der Mensch (besteht), und den vier (Himmels-)Richtungen der Welt, Ost, West, Süd und Nord. Die Fünf mache ich gleich den fünf Lichtern, der Sonne, dem Mond, den Sternen, dem Feuer und dem Glanz, der vom Himmel kommt. Die Sechs mache ich gleich der Erschaffung der Schöpfung in den sechs Jahreszeiten.

      Wenn die Stelle so richtig erfaßt ist, liefert sie uns also nicht nur das mpers. Wort für den „Würfel“, sondern auch die Bezeichnungen für die einzelnen „Augen“: Wie im Deutschen werden hierfür offenbar die einfachen Cardinalia „eins“ bis „sechs“ in substantivischer Funktion verwendet13.

      1.3.2. Ein Hauptcharakteristikum des heutigen nard-Spiels bleibt dabei jedoch unberücksichtigt, nämlich daß nicht nur éin Würfel verwendet wird; die Wurfkombinationen machen sogar gerade den Reiz des Spiels aus, da es die Augenzahlen möglichst zweckmäßig auf einzelne Züge zu verteilen gilt: nur so kann die Geschicklichkeit eines Spielers mangelndes Würfelglück wettmachen.    
      1.4.1. Die wohl früheste literarische Bezeugung dessen, daß das pers. nardSpiel gerade durch die Würfelkombinationen lebt, liefert nun eine Anekdote aus der Sammlung Čahār maqāla, die im 6. Jhdt. n.H./12. Jhdt. n.Chr. durch den Schriftsteller Niẓāmī al-ՙarūḍī aufgezeichnet wurde:
Der Seldschuken-König Tuġānšāh ibn Alp Arslan spielte einmal eine Partie nard mit hohem Einsatz gegen einen seiner Höflinge; als er einen Wurf von zwei Sechsen benötigt, der Würfel jedoch zwei Einsen zeigt, bricht er in Zorn aus und wird erst durch einen ad hoc gedichteten Vierzeiler seines Hofdichters Azraqī wieder besänftigt14.

      1.4.2. Außer den termini technici mohre für den „Spielstein“ und šeš gāh bzw. yek gāh für das „sechste“ bzw. „erste Feld“15 erscheinen hier die Bezeichnungen do šeš und do yek für den „Sechser-“ bzw. „Einerpasch“16. Diese beiden Bezeichnungen sind so zu analysieren, daß das jeweilige zweite Element - wie oben im Mpers. - ein als Substantiv verwendetes Zahlwort darstellt, das selbst durch das vorangehende do „zwei“ bestimmt ist: die treffendste Wiedergabe im Deutschen wäre „zwei Sechsen“ bzw. „zwei Einsen“17.
      Dies ist keine willkürliche, ad hoc gebildete Ausdrucksweise; die Benennungen der Wurfkombinationen sind im Pers. vielmehr zu einem festgefügten System geworden (und zu einem Bestandteil des Wortschatzes, den die Wörterbücher eher stiefmütterlich behandeln). Das erweist sich nicht zuletzt daran, daß sie so auch in zwei Nachbarsprachen, das Türkische und das Georgische, entlehnt wurden, während als Numeralia „normaler“ Funktion in diesen beiden Sprachen nach wie vor ausschließlich die autochthonen, ererbten Zahlwörter verwendet werden18.
      1.5. Bei der Entlehnung der pers. „Würfelzahlen“ sind nun einige bemerkenswerte Veränderungen eingetreten, die auf Interferenzen des übernommenen und des ererbten Zahlensystems zurückzuführen sind, und die, wie ich meine, eindeutig erweisen, daß die Entlehnung im Zusammenhang mit dem nard-Spiel erfolgt ist.

      2. Ich lege zunächst eine Liste der Wurfkombinationen beim türk. tavla vor, die ich mit Informanten erstellen konnte:

 6-6  düšeš  (a)    4-4  dörtčihar  (d)
 6-5  šešbeš  (d)    4-3  ǰiharüse  (c)
 6-4  šeščihar/altɨdört  (b/e)    4-2  jiharüdü  (c)
 6-3  šešüse  (c)    4-1  ǰiharüyek  (c)
 6-2  šešüdü  (c)        
 6-1  šešyek  (b)    3-3  düse  (a)
         3-2  sebāyüdü  (f)
 5-5  dübeš  (d)    3-1  seyek  (b)
 5-4  bešdört/penǰüǰihar  (e/c)        
 5-3  penǰüse  (c)    2-2  dabara  (f)
 5-2  penǰüdü  (c)    2-1  düyek  (b)
 5-1  penǰuyek/bešbir  (c/e)        
         1-1  hepyek  (f)19.


2.1. Die Bezeichnungen zerfallen in folgende Gruppen
a)

die rein pers. Paschzahlen des Typs düšeš = do šeš;


b)

bei den ungleichen Würfen asyndetische Verbindungen der höheren und der niedrigeren pers. Zahl wie z.B. „6-1“ = šešyek;


c)

Kombinationen einer höheren und niedrigeren pers. Zahl mit einem verbindenden Vokal -ü-, der die pers. Konjunktion o „und“ reflektiert, wie z.B. bei šešüse „6 und 3“ < šeš-o-se;


d)

Verbindungen, die ein türk. und ein pers. Zahlwort enthalten, wie z.B. šešbeš „6-5“;


e)

rein türk. Kombinationen wie z.B. bešbir „5-1“;


f)

die Sonderfälle sebāyüdü, dubāra und hepyek.


      2.2.1. Um die gegebene Vielfalt zu erklären, gehen wir zunächst von den „rein pers.“ Kombinationen aus, die bei weitem überwiegen. Für die darin vertretenen Einzelelemente lassen sich folgende Normalformen abstrahieren, die so auch in diversen Wörterbüchern verzeichnet sind20:
šeš „5“, penǰ21 „5“, ǰihar „4“, se „3“, „2“, yek „1“
      2.2.2. Die lautlichen Adaptationen, die diese Formen bei der Entlehnung durchgemacht haben, stehen durchweg im üblichen Rahmen; lediglich die Vertretung des pers. č- durch stimmhaftes ǰ- bei ǰihar „vier“ ist außergewöhnlich22: man vgl. z.B. türk. češm „Auge“ < pers. čašm id. oder die Wörter čardak „Laube“ und čaršamba „Mittwoch“, deren pers. Ausgangsformen, die Komposita c(ah)ārtāġ und č(ah)ārsambe, im Vorderglied eben das Zahlwort für „vier“ enthalten (cahārtāġ bedeutete ursprünglich „vierflächige Kuppel“, cahāršambe „vier Tage, d.h. den vierten Tag nach Sabbat“).
      Die Sonderentwicklung bei jihar kann nun kaum motiviert werden, wenn man von einer Entlehnung dieses Wortes für sich ausgeht; nimmt man jedoch an, daß die Verstimmhaftung zuerst da aufgetreten sei, wo das Wort als zweites Glied in einer Kombination stand, so läßt sich der Übergang č- zu ǰ- durchaus begründen: In der Verbindung panǰ-o-čahār „fünf und vier“, die dem türk. penǰüǰihar zugrunde liegt, könnte das stimmlose -č- an das vorausgehende stimmhafte -ǰ- assimiliert worden sein23. šeščihar und dörtčihar verdanken ihr č der progressiven Assimilation an die vorhergehenden stimmlosen Konsonanten.
      2.3. Als rein pers. erweisen sich bei näherem Hinsehen auch die beiden „Sonderfälle“ dubāra und sebāyüdü.
      2.3.1. Hinter dem ersteren verbirgt sich offensichtlich das pers. Wort für „zweimal“, dobāre, das hier, bei der Bezeichnung des „Zweierpaschs“, entweder prägnant für do bāre do „zwei mal zwei“ steht oder elliptisch aus diesem verkürzt ist24. Daß diese „umständlichere“ Bildung einem regulär zu erwartenden *do do > türk. *dü dü vorgezogen wurde, dürfte euphonische Gründe haben.
      2.3.2. Die Verbindung sebāyüdü, für die auch eine Variante sebādü belegbar ist25, reflektiert offenbar ein pers. se bā do „drei mit zwei“, bei dem das verbindende o „und“ – vermutlich ebenfalls wieder aus euphonischen Gründen – zunächst durch die Präposition „mit“ ersetzt war, dann aber in Analogie zu Formen wie šešüdü „sechs und zwei“ pleonastisch restituiert wurde26. Dieser Vorgang setzt natürlich voraus, daß den türk. Sprechern die ursprüngliche syntaktische Struktur der entlehnten Formen weder im Falle des singulären -bā- noch bei dem verbindenden -ü- durchsichtig geworden ist.
      2.3.3. Überhaupt kann das -ü- in den von den Türken gebrauchten Formen nur noch als ein funktionsloser Fugenvokal gedeutet werden, dessen Vorhandensein oder Fehlen am ehesten auf phonotaktischen oder rhythmischen Gegebenheiten beruhen dürfte. Dafür spricht das Nebeneinander von asyndetischen und -ü-haltigen Formen wie z.B. šešyek „sechs-eins“ und penǰü-yek „fünf und eins“, das sonst völlig regellos bliebe. Da die Wörterbücher daneben sogar Dubletten wie penǰüdü und penčdü für „5-2“ oder ǰihardü und ǰiharüdü für „4-2“ verzeichnen27, muß man wohl von weiterreichenden Analogien innerhalb des gesamten Systems ausgehen, die die ursprünglichen Verhältnisse entstellt haben und nicht in jedem Einzelfall geklärt werden können; mit Sicherheit ist jedoch anzunehmen, daß die pers. Ausgangsformen die Konjunktion in sich trugen.
      3. Um die Entstehung der hybriden Bildungen dörtčihar, šešbeš und dubeš zu veranschaulichen, seien ihnen zunächst die Formen gegenübergestellt, die nach dem Muster der „rein pers“. Verbindungen zu erwarten wären:

 šešbeš „6-5“:  vgl. *šeš (-ü-) penč  < pers. šeš-o-panǰ;
 dübeš „2(x)5“:  vgl. *düpenč  < pers. dopanǰ;
 dörtčihar „44“:  vgl. *düǰihar  < pers. docahār

      In allen drei Fällen läßt sich zeigen, daß die türk. Elemente sekundär in die entlehnten pers. Formen eingedrungen sein müssen, und zwar aufgrund von lautlichen Anklängen.
      3.1. Dies gilt zunächst für dörtcihar28: In dem zu erwartenden *dü-ǰihar konnte „2“ durch das türk. dört „vier“ ersetzt werden, weil es mit ihm in bezug auf den Anlautskonsonanten und die vokalharmonische Zuordnung übereinstimmte und gleichzeitig geeignet war, das zu Bezeichnende, nämlich den „Viererpasch“, mitanzuzeigen. Die Ersetzung kann zusätzlich durch einen Homonymenkonflikt begünstigt worden sein: Auf ein gleichlautendes pers. do c(ah)ār in der Bedeutung „unter vier Augen“ geht nämlich die türk. Entlehnung dučar „id.“ zurück, die allerdings, da sie nicht im System der Würfelzahlen verankert war, andere lautliche Entwicklungen durchmachte29.
      3.2.1. Bei den Formen šešbeš und dübeš hingegen dürfte nicht die Ähnlichkeit der Zahlwörter für „fünf“, beš und panǰ, allein den Ausschlag gegeben haben, denn es sind ja Formen wie penǰ-üdü mit dem pers. Element erhalten geblieben. Stattdessen ist anzunehmen, daß zunächst bei šešbeš das in der Form enthaltene šeš „6“ als Reimwort die Einsetzung von beš begünstigt hat. Wie nahe diese Reimbildung liegt, zeigt sich z.B. an türk. Redewendungen wie šeši beš görmek „völlig verwirrt sein; schielen“, wörtl. „die Sechs als Fünf sehen“30, die eben vom Würfelspiel ausgegangen sein dürfte. So kann es auch nicht verwundern, daß das türk. Zahlwort beš in der Verbindung šeš-o-beš wieder umgekehrt ins Pers. eindringen konnte31, zumal diese Kombination als Name eines besonders charakteristischen Wurfes in der Volkssprache zu einer Bezeichnung des Spieles selbst geworden ist32.

      3.2.2. Auch dem hybriden Namen für den „Fünferpasch“, dübeš33, dürfte ein Reimanklang zugrundeliegen, der allerdings nicht wie bei šešbeš innerhalb des Wortes selbst besteht; das Muster dürfte vielmehr die Form düšeš abgegeben haben, die Bezeichnung des nächsthöheren Pasches. Daß eine solche gegenseitige Beeinflussung der Namen zweier verschiedener Würfe gerade in diesen beiden Fällen denkbar ist, erhellt aus der besonderen Bedeutung, die dem „Sechserpasch“ und dem „Fünferpasch“ als den beiden bestmöglichen Würfen beim nard-Spiel zukommt34. Zur Illustration dessen ist es angebracht, kurz die Gegebenheiten des Georgischen zu beleuchten.
      3.3.1. Bei den Georgiern, deren Kultur seit Beginn der Überlieferung ständig einem starken pers. Einfluß ausgesetzt war, ist das nard-Spiel unter dem Namen nardi seit der Blütezeit der höfischen Dichtung im 12. Jhdt. nachweisbar; man vgl. z.B. den folgenden Vers aus dem Epos „Vepxistqaosani“ von Šota Rustaveli:

mepesa ese ambavi učns vita mġera nardisa

„Dem König kommt diese Erzählung wie ein Nard-Spiel vor“35.


      3.3.2. Wie die Türken haben auch die Georgier die pers. Zahlwörter als Bezeichnungen für die Augen des Würfels übernommen; der früheste mir bekannte Beleg dieser Zahlen begegnet in der metrischen Bearbeitung des Romans „Wisramiani“ (selbst eine Übertragung des pers. Epos „Wīs o Ramīn“), die der dichtende König Arčil im 17. Jhdt. anfertigte; der betr. Vers lautet:

kamatels hgevxar, šašs dagsva, iaked gardaikcevi

„Einem Würfel gleichst du:

legt man dich auf die Sechs, so verwandelst du dich in eine Eins“36.


      Dabei gilt festzuhalten, daß beide Wurfzahlen, šaš- und iak-, im Vokalismus einen aus npers. Sicht altertümlichen Zustand zeigen, der sich etwa mit dem des Taǰik. und des Dari vergleichen läßt; die Entlehnung dürfte deshalb rel. frühen Datums sein37.
      3.3.3. Die Georgier kennen nun auch die Bezeichnungen der Würfelkombinationen; das „Erklärende Wörterbuch der georg. Sprache“ erfaßt z.B. čarise für „4-3“ oder das dem türk. genau entsprechende dubara für den „Zweierpasch“38. Von besonderem Interesse für unsere Argumentation ist das folgende Zitat aus dem Werk des Schriftstellers Sopron Mgaloblišvili:

čemi sakme ḳamatlebis mġerasa hgavs, ḳai monardesavit sul dušaš-dubeši momdis.

„Mein Geschäft gleicht einem Würfelspiel: wie einem guten Nard-Spieler fällt mir

dauernd ein Sechser- (oder) Fünferpasch zu“39.

      In der Zusammenrückung dušaš-dubeši sind hier die Namen für den „Sechser-“ und den „Fünferpasch“ geradezu als ein Synonym für bestmöglichen Erfolg verwendet40; dabei erscheint die „türkisierte“ Form dübeš- sogar, ohne daß wie im Türk. ein echter Reim erzielt wird41. In jedem Falle zeigt das Beispiel deutlich, wie die beiden Formen aufeinander bezogen sein können.
      3.4. Zum Abschluß habe ich noch auf die Form hepyek für den „Einerpasch“ einzugehen. Auch dies ist eine hybride Bildung: sie enthält neben dem pers. yek „eins“ das türk. Wort hep „alle, alle zusammen“42.
      3.4.1. Anders als die vorhergehenden, beruht diese Zusammenrückung jedoch wohl nicht auf lautlichen Anklängen; sie dürfte vielmehr aus der Notwendigkeit entstanden sein, eine Zweideutigkeit zu vermeiden: die nach dem Muster der übrigen Paschnamen zu erwartende Bildung düyek, deren pers. Ausgangsform do yek uns in dieser Bedeutung in der eingangs erwähnten Anekdote der Čahār maqāla begegnet war, hat sich im Türk. nämlich als Bezeichnung der Kombination „zwei und eins“ festgesetzt43.
      3.4.2. Der gleiche Homonymenkonflikt scheint auch im Pers. selbst bestanden zu haben, wie die Bildung dobāyek zeigt, die das Wörterbuch von Abbasi verzeichnet44; hier ist ähnlich wie bei dem bereits besprochenen türk. sebayüdü (s.o. 2.3.2.) der gegenseitige Bezug der beiden beteiligten Zahlen durch „mit“ verdeutlicht. Aus dem gleichen Grunde dürfte im Pers. als Bezeichnung des „Einerpaschs“ eine Neubildung üblich geworden sein, die anstelle des Zahlworts yek das Wort kur „As“ verwendet; belegbar sind die Zusammensetzungen dokur und kurkur45.
      3.4.3. Auf einen zweiten Ausweg des Türk. weist die bei Steuerwald erfaßte rein türk. Kombination iki bir für den Wurf „2-1“, die nach den Angaben des Wörterbuchs sogar „üblicher“ als das von meinen Informanten gebrauchte düyek ist46. Daß auch hier wieder „volkssprachliche“ Elemente in das System eindringen konnten, ist sicher kein Zufall: Vergleicht man die oben behandelten hybriden Bildungen, so sind es durchweg die auffälligsten, prägnantesten Würfe, die Umbildungen erfahren haben; dazu gehören auch die Kombination „zwei-eins“ und der „Einerpasch“ als die Würfe mit der niedrigsten Augenzahl47.
      3.5. Was die übrigen „rein türk.“ Kombinationen wie z.B. bešbir betrifft, so können diese nach den bisherigen Ausführungen allenfalls als Anzeichen einer allgemeinen Tendenz zur Ersetzung der „fremden“, pers. Wortformen gewertet werden; eine Tendenz, die von den hybriden Bildungen ausgegangen sein dürfte48.

4. Zusammenfassung:
      4.1 Die npers. Zahlwörter von eins bis sechs dienen in einer Sonderfunktion zur Bezeichnung der „Augen des Würfels“; sie verhalten sich dabei syntaktisch wie Substantive („die Eins“ etc.).
      4.2. In dieser Sonderfunktion sind die Zahlwörter ins Türkische sowie ins Georgische entlehnt worden, wobei lautliche Gegebenheiten, aber auch gegenseitige Beeinflussungen zeigen, daß die Entlehnung im Rahmen von Zusammensetzungen erfolgte; diese Zusammensetzungen beschreiben nach einem festen Schema die Augen eines Würfelpaares.
      4.3. Da die Verwendung zweier Würfel gerade für das pers. nard-Spiel charakteristisch ist, läßt sich wahrscheinlich machen, daß die Wurfbezeichnungen zusammen mit diesem Spiel entlehnt wurden49.




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