EIN PERSISCH-TÜRKISCHES
ZÄHLSYSTEM BEIM WÜRFELSPIEL*
Von Jost Gippert, Berlin
echt jap.: | „sinojap.“: | heut. chin.: | rekonstr.: | ||||||||||||||||||||||||||
1: | hito-tsu | ichi | i | jət |
2:
| futa-tsu
| ni
| er
| ńźi
|
| 3:
| mi-ttsu
| san
| san
| sâm
|
| 4:
| yo-ttsu
| shi
| si
| si
|
| 5:
| itsu-tsu
| go
| wu
| ŋuo
| usw.
| |
Dieser Sonderfall ist auf dem Hintergrund eines mehrere hundert Jahre
währenden Kultureinflusses zu sehen, den das Chin. auf das Jap. ausgeübt hat,
und durch den auch andere Bereiche des jap. Sprachsystems geprägt werden:
Tatsächlich existiert im heutigen Jap. zu jedem autochthonen Wort eine
„sinojap“. Entsprechung, die als stilistische Variante in „höherstehenden“ Kontexten gebraucht wird; diese Verteilung galt zunächst auch bei den Zahlwörtern.
0.3. Häufiger ist zu beobachten, daß Zahlwörter in einem bestimmten, fest
umrissenen Kontext entlehnt werden. Ein solcher Fall ist z.B. im Kontakt iranischer und türkischer Sprachgemeinschaften am Nordrand des Kaukasus
aufgetreten: Wie der sowjetische Sprachwissenschaftler V.I. Abaev festgestellt
hat, kennen die türkischen Balqarer neben ihren ererbten eigenen Zahlwörtern
ein zweites, „paarweises“ Zählsystem, das sie ausschließlich in der Viehzucht
verwenden und das auf dem Zählsystem ihrer iranischen Nachbarn, der Osseten,
beruht; die Zahlen lauten2:
balqar. | < osset. (digor.), | vgl. osset. (iron.) | ||
2: | dua | duwæ | dɨwwæ | |
4: | čipar | cuppar | cɨppar | |
6: | ɨxsɨz | æxsæz | æxsæz | |
8: | as | ast | ast | usw. |
Die Umstände lassen nur einen Schluß zu, nämlich daß die Balqarer die
Zahlen mitsamt der Herdentierhaltung selbst von den Osseten übernommen haben; eigentlich liegt nicht die Entlehnung eines Zählsystems vor, sondern die
Übernahme eines neuen Vorrats von Realien, die mit ihren vorgegebenen
sprachlichen Etiketten belegt blieben. Um einen ähnlich gelagerten Fall soll es
auch im Folgenden gehen, wobei wir uns weiter im Bereich des iranischen und
türkischen Sprachkontakts bewegen.
1.1. Das beliebteste und verbreitetste Gesellschaftsspiel im Vorderen Orient
ist neben dem Schach das Brettspiel, das bei den Persern nard, bei den Türken
meist tavla genannt wird. Bei diesem Spiel versuchen zwei Gegner, einen Satz
von je 15 gleichwertigen Spielsteinen auf einem vorgegebenen Plan von einer
festen Ausgangsposition aus an ihr Ziel zu bringen, wobei die Züge durch zwei
Würfel bestimmt werden. Wenn eine Spielfigur auf ein Feld gelangt, wo sich ein
alleiniger Stein des Gegners befindet, so wird dieser „gefangengenommen“ und
muß seinen Weg neu antreten. Spielplan und Grundaufstellung können schematisch wie folgt dargestellt werden3:
1.2. Varianten dieses Spiels sind bereits seit der Antike auch in Europa anzutreffen, allerdings wurden hier zunächst meist drei Würfel verwendet4. Wie
die Benennungen des Spiels in den verschiedenen Sprachen zeigen, dürfte sich
diese Variante vom römischen Kulturkreis aus verbreitet haben: der lat. Name
tabula, ursprünglich die Bezeichnung des Spielbretts, findet sich nicht nur in den
diversen romanischen Sprachen wie z.B. im altfrz. tables wieder, sondern auch
im griech. τάβλη, im mhd. wurfzabel und im irischen táiplis; letztlich liegt das
lat. Wort auch dem türk. tavla zugrunde, wobei wohl erst ital. tavola, dann arab.
ﺔﻟﻭﺎﻃ vermittelt hat5.
1.3.1. Das pers. nard hat der Überlieferung zufolge eine mehr als tausendjährige Geschichte: Über seine Entstehung berichtet eine Legende, die in dem
mpers. Mādigān-ī čatrang6 und in Firdausīs Šāhnāme7 niedergelegt ist und die
sich wie folgt liest:
Der indische Rāja Dewsārm8 sendet dem Sasanidenkönig Xusraw Anōšak Ruwān (Kasrā
Nōšīrawān) das soeben erfundene Schachspiel mit der Aufforderung, die Aufstellung der Figuren und die Spielzüge zu entschlüsseln. Der Sasanide vermag die Aufgabe nicht zu lösen,
wohl aber sein Minister Wazurgmihr (Būzurǰmihr). Dieser erfindet nun seinerseits ein Brettspiel, das er mit der entsprechenden Aufforderung nach Indien senden läßt; der Rāja findet die
Regeln nicht heraus und wird dem Sasaniden tributpflichtig.
Während im Sāhnāme keine genaueren Angaben über Aufbau und Regeln
enthalten sind – das Spiel wird zwar nard genannt, gleichzeitig aber als
šatranǰwār „schachähnlich“ bezeichnet9 – bietet das Mādigān-ī čatrang immerhin einige Details, aus denen hervorgeht, daß tatsächlich ein Vorläufer des
heutigen nard gemeint ist10: Hier ist zunächst von einem Spielbrett (taxtag) und
30 Spielsteinen (muhrag) die Rede, die sich in 15 weiße und 15 schwarze
aufteilen11; von Bedeutung ist darüber hinaus die folgende Stelle, wo das sonst
offenbar unbelegte mpers. gardānāg erscheint12:
ēk abar gardānāg-ēw owōn homānāg kunēm kū Ohrmazd ēk ast, har nēkīh ōy dād. dō ēdōn
homānāg kunēm čiyōn mēnōg ud gētīg. sē owōn homānāg kunēm čiyōn humat ud hūxt ud
huwaršt ud mēnišn ud gōwišn ud kunišn. čahār owōn homānāg kunēm čiyōn čahār āmēzišn kē
mardōm az-iš u-š čahār sōg-ī gētīg, xwarāsān ud xwarwarān ud nēmrōz ud abāxtar. panǰ
owōn homanāg kunēm čiyōn panǰ rōšnīh, čiyōn xwaršēd ud māh ud stārag ud ātaxš ud warzag-ī az asmān āyēd. šaš owōn homānāg kunēm čiyon dādan-ī dām-ī pad šaš gāh-ī gāhānbār.
Nachdem Wazurgmihr vorher bereits das Spielbrett mit der Erde und die 30
Spielsteine mit den 30 Tagen eines Monats identifiziert hat, erläutert er seinem
König hier offenbar die Bedeutung der sechs verschiedenen Seiten des Würfels,
den sein Spiel verwendet:
Die Eins auf dem Würfel mache ich dem gleich, daß Ohrmazd eins (einzig ?) ist: alles Gute
hat er geschaffen. Die Zwei mache ich gleich (dem Dualismus) der geistigen und der materiellen Welt. Die Drei mache ich gleich wie (die Dreiheit) „guter Gedanke, gute Rede und gute
Tat“ und „Denken, Sprechen und Handeln“. Die Vier mache ich gleich den vier Essenzen, aus
denen der Mensch (besteht), und den vier (Himmels-)Richtungen der Welt, Ost, West, Süd und
Nord. Die Fünf mache ich gleich den fünf Lichtern, der Sonne, dem Mond, den Sternen, dem
Feuer und dem Glanz, der vom Himmel kommt. Die Sechs mache ich gleich der Erschaffung
der Schöpfung in den sechs Jahreszeiten.
Wenn die Stelle so richtig erfaßt ist, liefert sie uns also nicht nur das mpers.
Wort für den „Würfel“, sondern auch die Bezeichnungen für die einzelnen
„Augen“: Wie im Deutschen werden hierfür offenbar die einfachen Cardinalia
„eins“ bis „sechs“ in substantivischer Funktion verwendet13.
1.3.2. Ein Hauptcharakteristikum des heutigen nard-Spiels bleibt dabei
jedoch unberücksichtigt, nämlich daß nicht nur éin Würfel verwendet wird; die
Wurfkombinationen machen sogar gerade den Reiz des Spiels aus, da es die
Augenzahlen möglichst zweckmäßig auf einzelne Züge zu verteilen gilt: nur so
kann die Geschicklichkeit eines Spielers mangelndes Würfelglück wettmachen.
1.4.1. Die wohl früheste literarische Bezeugung dessen, daß das pers. nardSpiel gerade durch die Würfelkombinationen lebt, liefert nun eine Anekdote aus
der Sammlung Čahār maqāla, die im 6. Jhdt. n.H./12. Jhdt. n.Chr. durch den
Schriftsteller Niẓāmī al-ՙarūḍī aufgezeichnet wurde:
Der Seldschuken-König Tuġānšāh ibn Alp Arslan spielte einmal eine Partie nard mit hohem
Einsatz gegen einen seiner Höflinge; als er einen Wurf von zwei Sechsen benötigt, der Würfel
jedoch zwei Einsen zeigt, bricht er in Zorn aus und wird erst durch einen ad hoc gedichteten
Vierzeiler seines Hofdichters Azraqī wieder besänftigt14.
1.4.2. Außer den termini technici mohre für den „Spielstein“ und šeš gāh
bzw. yek gāh für das „sechste“ bzw. „erste Feld“15 erscheinen hier die
Bezeichnungen do šeš und do yek für den „Sechser-“ bzw. „Einerpasch“16.
Diese beiden Bezeichnungen sind so zu analysieren, daß das jeweilige zweite
Element - wie oben im Mpers. - ein als Substantiv verwendetes Zahlwort darstellt, das selbst durch das vorangehende do „zwei“ bestimmt ist: die treffendste
Wiedergabe im Deutschen wäre „zwei Sechsen“ bzw. „zwei Einsen“17.
Dies ist keine willkürliche, ad hoc gebildete Ausdrucksweise; die Benennungen der Wurfkombinationen sind im Pers. vielmehr zu einem festgefügten
System geworden (und zu einem Bestandteil des Wortschatzes, den die Wörterbücher eher stiefmütterlich behandeln). Das erweist sich nicht zuletzt daran,
daß sie so auch in zwei Nachbarsprachen, das Türkische und das Georgische,
entlehnt wurden, während als Numeralia „normaler“ Funktion in diesen beiden
Sprachen nach wie vor ausschließlich die autochthonen, ererbten Zahlwörter
verwendet werden18.
1.5. Bei der Entlehnung der pers. „Würfelzahlen“ sind nun einige
bemerkenswerte Veränderungen eingetreten, die auf Interferenzen des übernommenen und des ererbten Zahlensystems zurückzuführen sind, und die, wie
ich meine, eindeutig erweisen, daß die Entlehnung im Zusammenhang mit dem
nard-Spiel erfolgt ist.
2. Ich lege zunächst eine Liste der Wurfkombinationen beim türk. tavla vor,
die ich mit Informanten erstellen konnte:
6-6 | düšeš | (a) | 4-4 | dörtčihar | (d) | |
6-5 | šešbeš | (d) | 4-3 | ǰiharüse | (c) | |
6-4 | šeščihar/altɨdört | (b/e) | 4-2 | jiharüdü | (c) | |
6-3 | šešüse | (c) | 4-1 | ǰiharüyek | (c) | |
6-2 | šešüdü | (c) | ||||
6-1 | šešyek | (b) | 3-3 | düse | (a) | |
3-2 | sebāyüdü | (f) | ||||
5-5 | dübeš | (d) | 3-1 | seyek | (b) | |
5-4 | bešdört/penǰüǰihar | (e/c) | ||||
5-3 | penǰüse | (c) | 2-2 | dabara | (f) | |
5-2 | penǰüdü | (c) | 2-1 | düyek | (b) | |
5-1 | penǰuyek/bešbir | (c/e) | ||||
1-1 | hepyek | (f)19. |
2.1. Die Bezeichnungen zerfallen in folgende Gruppen
a)
die rein pers. Paschzahlen des Typs düšeš = do šeš;
bei den ungleichen Würfen asyndetische Verbindungen der höheren und der niedrigeren pers. Zahl wie z.B. „6-1“ = šešyek;
Kombinationen einer höheren und niedrigeren pers. Zahl mit einem verbindenden Vokal -ü-, der die pers. Konjunktion o „und“ reflektiert, wie z.B. bei šešüse „6 und 3“ < šeš-o-se;
Verbindungen, die ein türk. und ein pers. Zahlwort enthalten, wie z.B. šešbeš „6-5“;
rein türk. Kombinationen wie z.B. bešbir „5-1“;
die Sonderfälle sebāyüdü, dubāra und hepyek.
šešbeš „6-5“: | vgl. *šeš (-ü-) penč | < pers. šeš-o-panǰ; |
dübeš „2(x)5“: | vgl. *düpenč | < pers. dopanǰ; |
dörtčihar „44“: | vgl. *düǰihar | < pers. docahār |
In allen drei Fällen läßt sich zeigen, daß die türk. Elemente sekundär in die
entlehnten pers. Formen eingedrungen sein müssen, und zwar aufgrund von
lautlichen Anklängen.
3.1. Dies gilt zunächst für dörtcihar28: In dem zu erwartenden *dü-ǰihar
konnte dü „2“ durch das türk. dört „vier“ ersetzt werden, weil es mit ihm in
bezug auf den Anlautskonsonanten und die vokalharmonische Zuordnung übereinstimmte und gleichzeitig geeignet war, das zu Bezeichnende, nämlich den
„Viererpasch“, mitanzuzeigen. Die Ersetzung kann zusätzlich durch einen Homonymenkonflikt begünstigt worden sein: Auf ein gleichlautendes pers. do
c(ah)ār in der Bedeutung „unter vier Augen“ geht nämlich die türk. Entlehnung
dučar „id.“ zurück, die allerdings, da sie nicht im System der Würfelzahlen
verankert war, andere lautliche Entwicklungen durchmachte29.
3.2.1. Bei den Formen šešbeš und dübeš hingegen dürfte nicht die Ähnlichkeit der Zahlwörter für „fünf“, beš und panǰ, allein den Ausschlag gegeben
haben, denn es sind ja Formen wie penǰ-üdü mit dem pers. Element erhalten geblieben. Stattdessen ist anzunehmen, daß zunächst bei šešbeš das in der Form
enthaltene šeš „6“ als Reimwort die Einsetzung von beš begünstigt hat. Wie
nahe diese Reimbildung liegt, zeigt sich z.B. an türk. Redewendungen wie šeši
beš görmek „völlig verwirrt sein; schielen“, wörtl. „die Sechs als Fünf
sehen“30, die eben vom Würfelspiel ausgegangen sein dürfte. So kann es auch
nicht verwundern, daß das türk. Zahlwort beš in der Verbindung šeš-o-beš
wieder umgekehrt ins Pers. eindringen konnte31, zumal diese Kombination als
Name eines besonders charakteristischen Wurfes in der Volkssprache zu einer
Bezeichnung des Spieles selbst geworden ist32.
3.2.2. Auch dem hybriden Namen für den „Fünferpasch“, dübeš33, dürfte ein
Reimanklang zugrundeliegen, der allerdings nicht wie bei šešbeš innerhalb des
Wortes selbst besteht; das Muster dürfte vielmehr die Form düšeš abgegeben
haben, die Bezeichnung des nächsthöheren Pasches. Daß eine solche gegenseitige Beeinflussung der Namen zweier verschiedener Würfe gerade in
diesen beiden Fällen denkbar ist, erhellt aus der besonderen Bedeutung, die dem
„Sechserpasch“ und dem „Fünferpasch“ als den beiden bestmöglichen Würfen
beim nard-Spiel zukommt34. Zur Illustration dessen ist es angebracht, kurz die
Gegebenheiten des Georgischen zu beleuchten.
3.3.1. Bei den Georgiern, deren Kultur seit Beginn der Überlieferung
ständig einem starken pers. Einfluß ausgesetzt war, ist das nard-Spiel unter dem
Namen nardi seit der Blütezeit der höfischen Dichtung im 12. Jhdt. nachweisbar; man vgl. z.B. den folgenden Vers aus dem Epos „Vepxistqaosani“ von
Šota Rustaveli:
mepesa ese ambavi učns vita mġera nardisa
„Dem König kommt diese Erzählung wie ein Nard-Spiel vor“35.
kamatels hgevxar, šašs dagsva, iaked gardaikcevi
„Einem Würfel gleichst du:
legt man dich auf die Sechs, so verwandelst du dich in eine Eins“36.
čemi sakme ḳamatlebis mġerasa hgavs, ḳai monardesavit sul dušaš-dubeši momdis.
„Mein Geschäft gleicht einem Würfelspiel: wie einem guten Nard-Spieler fällt mir
dauernd ein Sechser- (oder) Fünferpasch zu“39.
In der Zusammenrückung dušaš-dubeši sind hier die Namen für den „Sechser-“ und den „Fünferpasch“ geradezu als ein Synonym für bestmöglichen Erfolg verwendet40; dabei erscheint die „türkisierte“ Form dübeš- sogar, ohne daß wie im Türk. ein echter Reim erzielt wird41. In jedem Falle zeigt das Beispiel deutlich, wie die beiden Formen aufeinander bezogen sein können.Achtung: Dieser Text ist mit Unicode / UTF8 kodiert. Um die in ihm erscheinenden Sonderzeichen auf Bildschirm und Drucker sichtbar zu machen, muß ein Font installiert sein, der Unicode abdeckt wie z.B. der TITUS-Font Titus Cyberbit Unicode. | Attention: This text is encoded using Unicode / UTF8. The special characters as contained in it can only be displayed and printed by installing a font that covers Unicode such as the TITUS font Titus Cyberbit Unicode. |