A. J. van Windekens: Le Tokharien confronté avec les autres langues indo-européennes. Vol. I: La phonétique et
le vocabulaire. (Travaux publiés par le Centre International de Dialectologie Générale de l'Université
catholique néerlandaise de Louvain, Fasc. IX). Louvain
1976. XXI, 697 S.
A. J. van Windekens, der sich durch überaus zahlreiche Veröffentlichungen zur tocharischen Sprachgeschichte (bisher drei
Monographien
1, weit über 100 Aufsätze) einen Namen gemacht hat,
legt uns mit dem hier anzuzeigenden Buch den ersten Band seines
auf zwei Bände geplanten bisher umfangreichsten Werkes
zu diesem Thema vor.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: der erste, »la phonétique«
überschrieben, bringt die systematische Herleitung des tocharischen Lautzustandes aus dem Uridg. Dabei wird zunächst das
phonologische System (»système phonétique«) sowie die »accentuation« der beiden tocharischen Dialekte dargestellt, dann werden
für jedes rekonstruierte uridg. Phonem die mutmaßlichen Normalentsprechungen im Toch. anhand von Beispielswörtern vorgeführt, zuletzt gewisse Sonderentwicklungen der vokalischen und
konsonantischen Phoneme, wie Umlautungen, Nasalierungen,
Palalatisationen, Metathesen und sonstige kombinatorische Lautwandel behandelt.
Der zweite, umfangreichere Teil »le vocabulaire« ist nichts
anderes als ein umfassendes etymologisches Wörterbuch der
tocharischen Sprache.
Angefügt ist ein Index der vorkommenden Wörter des Toch. und
der anderen Sprachen.
Das Buch wendet sich von seiner Anlage her naturgemäß an
zweierlei Benutzer. Einmal an den tocharistischen Philologen, der
sich über die Geschichte der von ihm betriebenen Sprache informieren will — die Sprachgeschichte hat für die Tocharistik freilich
nie eine so große Rolle spielen können wie etwa für das Altindische (Veda) und das Altiranische (Avesta), aus Gründen, die
weiter unten noch zur Sprache kommen werden. Zum anderen
dürfte sich das Buch an den Indogermanisten richten, der sich
einen Eindruck über Möglichkeiten und Aussichten verschaffen
will, die das Toch. für seine Problemstellungen bietet. Letzteres
kommt umso mehr in Betracht, als es bisher kein etymologisches
Wörterbuch des Toch. gegeben hat — abgesehen vom »Lexique
étymologique« desselben Autors (s. Anm. 1), das dieser aber
nunmehr, wie auch frühere Aufsätze, in vielen Punkten als überholt
anerkennen muß. Es gibt ja bisher nicht einmal ein umfassendes
deskriptives Wörterbuch beider tocharischer Dialekte; der
Informationssuchende ist angewiesen auf einzelne Glossare zu
Textausgaben und zum »Elementarbuch«.
2
Für den ersteren Benutzerkreis hat sich bereits in zwei ausführlichen Besprechungen der wohl führende Vertreter der toch.
Philologie zu Anlage und Nutzen des Buches geäußert.
3 Dem dort
gesagten ist von dieser Seite nur wenig hinzuzufügen: zunächst fällt
die Transskription
ç statt sonst in der Tocharistik üblichem
ś auf;
gewöhnen muß man sich auch an die Anordnung des Alphabets im
»vocabulaire« (Anordnung des Lateinalphabets, aber
c hinter
k und
ç hinter
s, ṣ). Ein weiterer großer Nachteil des »vocabulaire« liegt
darin, daß es zweiteilig angelegt ist: »mots d'origine indo-européenne« und »mots empruntés à d'autres langues asiatiques«
sind getrennt aufgeführt; um ein toch. Wort nachzuschlagen, muß
man also des öfteren zweimal suchen,
4 es sei denn, man kennt
die vom Verf. bevorzugte Herleitung. Übrigens ist der Benutzer
nicht völlig sicher vor fragwürdigen Bedeutungsangaben; vgl.
(toch.) A (und) B
tsälp- »traverser« (dt. »hinübergehen« im Sinne
von »erlöst werden«) oder B
täno »blé, grains« (dt. »Korn« in der
Bedeutung von »granum«). Als deskriptives Glossar — durchaus nicht unübliche Nebenfunktion eines etymologischen Wörterbuchs — ist das »vocabulaire« also kaum zu benutzen.
Rez. will das Buch im folgenden aus der Sicht des zweiten —
indogermanistischen — Benutzerkreises skizzieren.
Jedem Indogermanisten, der das Toch. in seine Forschungen
einbezogen hat, ist ziemlich bald aufgefallen, daß diese Sprache
innerhalb der idg. Sprachfamilie vereinzelt dasteht und in etymologischer Hinsicht viel weniger durchsichtig ist als die meisten
anderen Sprachen, die uns aus der gleichen Zeit überliefert sind.
Diese Erkenntnis spiegelt sich in dem »halb im Scherz« gesagten
Satze W. Schulzes, »daß tocharische Etymologien entweder auf der
Hand lägen und nicht erst besonders herausgestellt zu werden
brauchten, oder daß sie besser gar nicht gemacht werden
sollten«.
5Seither hat kein Forscher für sich in Anspruch nehmen
können, den Schlüssel zur Lösung der so überaus zahlreichen
Rätsel in der tocharischen Sprachgeschichte gefunden zu haben.
Demgegenüber verwundert es, daß im vorliegenden Buch der
Verf. VW
6 zu fast jedem überlieferten toch. Wort einen etymologischen Abriß zu liefern vermag — Formulierungen wie »inexpliqué« (z.B. bei B
närs »serrer, presser« S. 314) sind äußerst
selten. VW setzt sich stattdessen für den bei weitem überwiegenden
Teil des toch. Wortschatzes für uridg., nicht entlehnten Ursprung
ein.
Wie ist das möglich angesichts der erwähnten Schwierigkeiten in
der tocharischen Etymologie? Ist es VW, der das Geheimnis des
Toch. gelüftel hat? Die Antwort muß lauten: sicher nicht. Das
vorliegende Ergebnis seiner Forschungen beruht auf einer Methode,
die nur als mangelhaft bezeichnet werden kann, und ist
entsprechend zu werten. Dieses zu demonstrieren, hat sich Rez.
hier zur Aufgabe gesetzt.
Die Unabdingbarkeit der Lautgesetze ist, seit sie von den Junggrammatikern postuliert wurde, zum Ausgangspunkt jeglicher
ernstzunehmenden etymologischen Forschung geworden; wo Ausnahmen nicht erklärt werden können, sollte eine unsichere Etymologie fallengelassen werden. Das Toch. bietet gerade in Bezug
auf Lautgesetzlichkeiten große Probleme: angesichts der sehr
geringen Zahl von »schlagenden« Etymologien (Zahlwörter, Verwandtschaftsbezeichnungen, einige Verben des Grundwortschatzes) war es bisher nur in groben Zügen möglich, zum Ansatz von
Lautgesetzen zu kommen. Man hat speziell beim Toch. auch mit
einer großen Zahl von noch undurchschauten kombinatorischen
Lautwandeln zu rechnen. VW ist im vorliegenden Buch durchaus
bemüht, sich an begründet aufgestellte Lautgesetze zu halten; damit
kommt er aber kaum über die erwähnten »schlagenden«
Etymologien hinaus. Bei der Menge von Wörtern, die bei strikter
Anwendung von Lautgesetzen ohne Etymologie bleiben müßten,
begibt er sich dann aber auf andere Lösungswege, um die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Diese Lösungswege sind es, die
aus sich selbst heraus oder durch ihre exzessive Anwendung
ein Vertrauen in VW'sche Etymologien selten aufkommen lassen.
Ein solcher Lösungsweg VW's ist es, Lautgesetze zu »entschärfen«. Ein Beispiel: Uridg.
*q (gemeint ist der Velar) und.
*
ḱ (der Palatal) müssen im Toch. als erklärter Kentumsprache
nach der herrschenden Lehre a priori zusammengefallen sein.
VW behauptet folgerichtig ein weitgehend identisches Palatalisationsgeselz: »I.-e.
*q se trouvant devant i.-e.
*e, *ē, *eu, *ēu, *i«
bzw. »i.-e. *
ḱ se trouvant devant i.-e.
*e, *ē, *ēi, *i, *ī, *i̯ est palatalisé et aboutit à
ç, mais on obtient
c, d'ou
éventuellement ç, si la
palatale est précédée de
*n« (S. 88 § 256 / S. 85 § 250; Hervorhebung d. Rez.). Dieses Laut-»Gesetz« findet sich dann ebenso
widersprüchlich, wie es formuliert ist, auch angewendet, und zwar
(S. 16 § 36) bei A
aṃçär »faible, lourd, pesant« < uridg. *
onḱero-
einerseits und bei A
añcäl »arc« < uridg.
*onqel- andrerseits;
die Gruppen
-nḱ- bzw.
-nq- der beiden rekonstruierten Formen
müßten gleiche Entwicklung im Toch. zeigen! Übrigens haben
beide Rekonstrukte keine direkten Entsprechungen in anderen
Sprachen, sondern beruhen auf dem Vergleich der toch. Werter mit
gr. ὄγκος »Last«
7 bzw. gr. ὄγκος »Widerhaken des Pfeils«.
Ein zweiter Lösungsweg ist es, bei bestehenden Problemen in
einer bisher nicht gekannten Form kombinatorische Lautgesetze
aufzustellen. Spätestens da, wo ein solches Lautgesetz nur für
ein Beispielswort zutrifft, kann man sich des Eindrucks nicht
erwehren, daß es eben nur ad hoc für dieses geschaffen wurde
und damit zumindest fragwürdig bleibt. Dies ist der Fall z.B. bei
A
pracar B
procer »frère«, wo A
a B
o die reguläre Entwicklung
von uridg.
*ā nach
r und vor
c darstellen soll. In den Kasusformen
mit
-t- desselben Wortes sei der Vokalisinus des Nom. analogisch
verallgemeinert (S. 387). Dieselbe Sonderentwicklung sei lediglich
in zwei Wörtern nachweisbar für uridg.
ə1 (was bei VW das schwa
indogermanicum primum bezeichnet; dazu weiter unten), welches
im Toch. praktisch mit uridg.
*ā (und *
a) zusammengefallen sein
dürfte (S. 25 § 60). Die etymologische Herleitung dieser beiden
Wörter ist jedoch alles andere als überzeugend: A
oṅkrac B
oṅkrocce »immortel, éternel« soll A
*krac, B
*kroc- < uridg.
*ĝrə1-ti- enthalten und damit z.B. zu skr.
jarimán- »Altersschwäche, Alter« zu stellen sein; und B
orotstse »grand« enthalte
*rotstse < uridg.
*u̯rə1dh-to- und gehöre damit zu skr. ved.
vrādh-
»groß sein« etc. (S. 29 § 71).
Bei diesen beiden Ansätzen schimmert schon die von VW
meistgenutzte Möglichkeit durch, um seine Etymologisierungen
durchführen zu können: Die Verlagerung der lautlichen Schwierigkeiten in die uridg. Grundsprache selbst, wo sie dann unerklärt
bleiben. Das Bild der Grundsprache, das sich aus VW'schen
Etymologien ergibt, ist entsprechend befremdlich. Nur wenige
Beispiele mögen dies demonstrieren.
Da ist zum einen die Wortbildung. Uridg. Ansätze mit *
-ē(n)
finden sich bei Wörtern wie AB
yepe »couteau« < uridg.
*u̯ēb-ē(n), so rekonstruiert im Vergleich mit
*u̯ēb-no- in der germ.
Sippe um dt.
Waffe etc. (S. 596 f.); oder bei A
yats B
yetse »peau«
< uridg. *
ēdhē(n), verglichen mit lit.
óda »Haut, Leder« (S. 588);
in B
kepec (Akk. Sg.) »ourlet, bord« soll ein uridg.
*qopo-ti-oder
*qopo-tē(n) stecken, Nominalbildung von uridg.
*qop- (gr.
κόπτω) (S. 214); B
yuṣe »ruse« enthalte uridg.
*usē(n) als Ableitung von
*us-, welches selber Ablautsvariante der Wurzel
*
u̯es- »verweilen, die Nacht verbringen« sein soll (S. 612). Alle
Wörter zeigen dieses Suffix natürlich nur in den jeweiligen toch.
Reflexen; abgesehen von unerklärten Ablautsverhältnissen kommen
vor allem beim letzten Beispiel noch beträchtliche Bedeutungsdivergenzen dazu.
Ein ähnlicher Fall ist das (Suffix? Endung?) uridg.
*-i̯ē in den
Femininen A
ri B
riye »ville« < uridg. *
u̯rii̯ē (verglichen mit thr.-phryg. βρία »πόλις, τεῖχος« < uridg. *
u̯rii̯ā, S. 405) sowie in B
salyiye (neben A
sāle mask.) »sel« < uridg. *
sal(i)i̯ē (S. 417).
Ein zweites ist der uridg. Ablaut, dessen Möglichkeiten über
Gebühr strapaziert werden. VW's Wunderwaffe sind
ə1 und
ə2, die,
wie oben schon angedeutet, nicht im Rahmen der Laryngaltheorie verwendet werden, sondern schwa (indogermanicum)
primum bzw. secundum bezeichnen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich zumindest der Ansatz des letzteren, der auf
H. Güntert
8 zurückgeht, nie hat durchsetzen können. So ist für
heutige Verhältnisse auf jeden Fall die Wahl der Symbole
ə1 und
ə2 unglücklich; Ansätze wie uridg.
*dhug(h)ə1-ter- (S. 251 s.v. A
ckācar »fille«) wirken auf den ersten Blick befremdlich. Die
Kritik an VW's Arbeit mit den Schwas geht aber tiefer.
ə1 findet
sich, natürlich nur aufgrund des toch. Befunds, angesetzt z.B. in A
kāp-, B
kāp-, kāw- »désirer, souhaiter«, welches auf ein uridg.
*qu̯ə1p-, Variante von
*q(e)u̯ēp- (sic!), zurückgehen soll im Vergleich mit lat.
cupere, skr.
kúpyati, lit.
kvãpas, gr. καπνός;
letzteres sei übrigens in Bezug auf die Bildung identisch mit toch.
A
kāpñe (»cher, aimé«); ein Versuch, den Auslaut
-ñe (der gr. -νός
auf keinen Fall entsprechen kann) zu erklären, unterbleibt (S.
194 f.). Ein weiteres
ə1 stecke in B
pyāk- »frapper, enfoncer«,
welches auf der uridg. Wurzel *
bh(i)i̯ə1-, um das Nominalsuffix
-q(o)- erweitert, aufgebaut sei; auszuschließen sei aber auch nicht
eine Grundform *
bhei̯ə1-q(o)-. Zur selben »racine« gehören übrigens auch aksl.
biją (bьją) »schlagen«, av.
byente »sie bekämpfen,
schlagen«, air.
ben(a)id »schlagen«, gr. ϕιτρός »Baumstamm,
Holzklotz«, arm.
bir »großer Stab« etc. (S. 397 f.).
Während
ə1 also überall da erscheint, wo ein toch. AB
-ā- sonst
unerklärt bleiben müßte, ist
ə2 (vor
r, l, n, m + Vokal übrigens
er etc. geschrieben, vgl. S. 24 § 58) die Passepartouterklärung für
viele AB
-ä- bzw. — in bestimmten Umgebungen — andere Kurzvokale. So wird A
suk »bonheur; plaisant, agréable«, B
sakw, sak
»bonheur, plaisir« gestellt zu uridg. *seq
u̯- »folgen« unter Verweis
auf lat.
secundus »günstig«,
res secundae »glückliche Umstände,
Glück«, wozu noch lit.
sekmė »Folge, Erfolg« (S. 444). A
suk- etc.
gehe dann zurück auf ein uridg.
*sə2qu̯ṇ mit
-ə2- gegenüber
-∅-
in gr. σπέσϑαι, skr.
ā́skra- und vielleicht auch toch. A
säk-»folgen (?)« (l.c.).
9 In der Tat ist ja das schwa secundum gemäß
der Theorie, der es seine Existenz verdankt, nichts anderes
im uridg. System als ein Allophon des
∅ der Schwundstufe (in
der Stellung zwischen zwei Konsonanten, vor allem Okklusiven).
Die mannigfachen Entsprechungen, die
-ə2- in den Einzelsprachen
haben soll (vgl. gr. σκ-ί-δνημι gegenüber τετ-α-γών; S. 24 § 57)
lassen aber wohl eben doch eher auf eine Entstehung aus jeweils
einzelsprachliehen analogischen Ausgleichungen schließen. Die
Ansetzung des schwa secundum aus Erfordernissen allein des toch.
Materials heraus, wie sie VW in den meisten Fällen durchführt,
wirkt jedenfalls mehr wie ein Taschenspielertrick als eine brauchbare Hypothese. Übrigens rechnet auch VW mit einem Stützvokal
-ä-, der sich innerhalb von Konsonantengruppen im Toch.
entwickelt haben dürfte (vgl. §§ 170 ff., SS. 51 ff.); nach Meinung
des Rez. dürften sich eher hier erfolgversprechende Lösungswege
für unerklärte Kurzvokale in toch. Wörtern anbielen (evtl. ist für
das Urtoch. mit einem Gesetz offener Silben zu rechnen).
Wie merkwürdig es oft anmutet, wenn VW in der geschilderten
Weise den uridg. Ablaut an den Gegebenheiten des Toch. orientiert, mag noch ein Beispiel zeigen: A
mlusk-, mlosk- »se dégager
(de), sortir«, B
mlutk »sortir« werden zu gr. βλώσκω, μέμβλωκα
»gehen« gestellt, welches im Zusammenspiel mit dem Aor. μολεῖν
auf ein uridg.
*melō- neben
*mel- »sortir (de), apparaitre« weisen
soll (S. 299). Das toch. A
mlusk-, mlosk- soll dann dazu zwingen,
gegenüber gr. βλώσκω ein uridg.
*melō(u)- anzunehmen: die
Variante
mlu(sk)- gehe zurück auf
*mlū-, während
mlo(sk)- uridg.
*mlōu- repräsentiere (S. 300). Hier erscheint also das gleiche
Suffix einmal bei vollstufiger, einmal bei schwundstufiger Wurzel,
und letzteres nur im Toch.; nicht zu reden von den Schwierigkeiten bei uridg. Langdiphthongansätzen überhaupt (deren sich
VW zu reichlich bedient).
Übrigens zahlt auch der Unterschied von uridg.
*ī und *
i, von
*ū und
*u bei VW's Ansätzen nicht viel; schließlich sind die
großen Linien der Entwicklung von uridg.
*ī dieselben wie die
von
*i (S. 28 § 68), und gleiches gilt für
*ū/u (S. 28 § 69). So
wird A
oṣke B
oskiye »demeure, logis« zusammengebracht mit skr.
úcyati »gewohnt sein«,
ókas »Behagen; Wohnstätte« (mit
*u-)
einerseits, lit.
ū́kis »Landsitz, Hof«, aksl.
v-ykną »sich gewöhnen«,
got.
bi-ūhts »gewohnt« (mit
*ū-) andrerseits. Für die toch. Form
müsse dann von einein Verbalstamm
*ok-sk- ausgegangen werden,
mit *
ok- < uridg.
*uq- (sic; S. 343). Auch in anderen etymologischen Wörterbüchern ist die Verbindung der altind. Wörter und
der balt.-slaw.-germ. Sippe durchgeführt (z.B. bei Vasmer, russ.
EW s.v.
vyknut'). Stützen kann das Toch. diese unsichere
Etymologie allein schon wegen der semantischen und morphologischen Probleme nicht.
Eine letzte Zauberformel hat VW für Probleme im Anlaut toch.
Wörter: das »préfixe intensif« und das »prélixe privatif«. Ersteres
wird dargestellt unter I.A
ā- (S. 154 ff.) und erscheint in A in
den Formen
ā-, a-, ana- (vor Konsonant),
ān- (vor Vokal),
y-
(vor Vokal oder Kons.); in B lautet es
ā-, a-, e-, en-, ene-, o-, on-
(vor Kons.),
an-, y-, yn- (vor Vokal oder Kons.). Alle diese
Formen sollen etymologisch zusammengehören, und zwar sei
dabei auszugehen von uridg.
*en in gr. ἐν, lat.
in etc. Entsprechend sei die ursprüngliche Bedeutung »in« in einigen toch.
Wörtern, die mit dem Präfix ausgestattet sind, sogar erhalten
(S. 155). Für die Erklärung der verschiedenen Lautungen geht
VW von Ablautsunterschieden aus, z.B. für A
ā-, B
ā-, a- von
*
ṇ- (vor Kons.), für A
ān-, B
an- von *
en- (vor Vokal) (l.c.).
Den Betrachter wird zunächst die Frage bedrängen, was überhaupt mit der Bezeichnung »préfixe intensif« gemeint sein kann.
Man denkt an Wörter wie dt.
Unmenge, abertausende, überreich.
Eine solche Intensivierung läßt sich aber wohl doch kaum wiederfinden in toch. AB
āñu »cessation, arrêt, repos« <
ā- + ñu < (ur-toch.)
*mñu; dieses repräsentiere ein uridg.
*mn-eu, dessen anlautendes
*mn- zur uridg. Wurzel
*men- in gr. μένω »bleiben«
etc. gehöre (S. 165). Eine »Intensivierung« ist natürlich auch
nicht bei AB
yneç »manifestement, distinctement, en personne«
(<
yn- + eç ≈ B
ek »oeil«) zu erkennen; schließlich hat man hier
noch die Grundbedeutung »in«, und
yneç bedeutet also eigentlich
»dans l'oeil« (S. 600). Nicht diese Etymologie ist zurückzuweisen,
wie auch einige andere mit dem »préfixe« in der Form
y(n)- und
der Grundbedeutung »in«; es ist vor allem die Überstrapazierung
des Begriffs und die behauptete Verschmelzung so vieler
verschiedener Formen, die VW's »prélixe intensif« als einen
erzwungenen Notbehelf erscheinen lassen. Die generelle Frage,
ob in toch. Wertformen (vor allem auch bei Verbalstämmen)
Reste von Präfigierungen verborgen sind, wie sie in den meisten
anderen idg. Sprachen der gleichen Zeit vorkommen, will Rez.
übrigens nicht von vornherein abschlägig beantworten. So erinnert
das von VW unter dem »préfixe intensif« subsumierte AB
ā- in
vielem an das ind.-iran. Präfix
ā-, und die zahlreichen Verbalstammanlaute mit
ts- lassen an Vorsilben wie lat.
dis-, gr. δια- oder
auch aind.
ati- etc. denken.
10
Beim »préfixe privatif«, das von VW in fast genauso vielen und
dazu lautlich denselben Formen wie das »préfixe intensif« angesetzt wird (S. 156 f., s.v. 2.A
ā-), sind die gleichen Einwände zu
erheben; VW's Ausgangspunkt ist hier übrigens uridg. *
ṇ- bzw.
*
en- mit gr. ἀ- etc.
Grundsätzlich als positiv ist zu vermerken, daß VW im Gegensatz zu vielen seiner früheren Publikationen jetzt augenscheinlich
bemüht ist, Lehnwortetymologien aus verschiedenen uralischen,
paläoasiatischen und kaukasischen Sprachen zugunsten von idg.
Etymologien aufzugeben. Entsprechend klein ist der Umfang des
Abschitts »Choix de mots empruntés à d'autres langues asiatiques«
im vorliegenden Buch. Das hindert ihn allerdings nicht daran,
im Notfall doch auf diesen Lösungsweg auszuweichen. Das Ergebnis sind Entlehnungen aus dem Ural. wie A
kaṣ B
keṣe
»brasse« (ungar.
kéz »Hand« etc.; S. 625);
A kälk-/kalk- »aller«, B
kālak- »suivre« (finn.
kulkea »gehen«; l.c.); A
potäk »patte, main«
(finn.
potku »Fußtritt«; S. 637. Man beachte vor allem hier die
Bedeutungsdivergenz!). Aus einer Turksprache soll A
koṃ, B
kauṃ
»jour, soleil« stammen (türkeitürk.
gün »Tag«; S. 626). Aus dem
paläoasiatischen Bereich A
omäl B
emalye »chaud« (kamtschadalisch West
umela, Nord-West
nomla »id.«; S. 634) und B
kele
»nombril« (tschuktschisch
kil, koryakisch
kyl »id.«; S. 626). Vor
allem die Bedeutungssphäre dieser Wörter macht eine Entlehnung
doch höchst unwahrscheinlich;
11 eine Lehnbeziehung des Toch. zu
den genannten Sprachen ist nicht zu beweisen. Demgegenüber
ist die Herleitung toch. Wörter aus dem ind. (Sanskrit/Prakrit) und
iran. Bereich (vor allem sogd. und sakisch)
12 im allgemeinen
erfolgversprechend, wird von VW vielleicht sogar zu wenig berücksichtigt. So etwa bei B
apsāl »épée«, welches VW mit av.
afša-, afšman- »Schaden« und lit.
opùs »schwach« vergleicht und
als Bildung auf
-āl auf eine Wurzel
*āps < uridg.
*ā̆ps- (sic;
S. 148) zurückführt. Er sieht nicht, warum Krause-Thomas (im
»Elementarbuch« I S. 71) B
apsāl zu den Fremd- und Lehnwörtern zählen. Genannte Autoren werden vermutlich an pahlB.
՚pz՚l/՚pc՚l »Instrument, Waffe« (so in der Übersetzung von av.
+zaēna »id.« in Yt. 1, 27), pahlT.
՚bc՚r, npers.
afzār/avzār gedacht
haben; diese Etymologie ist der VW'schen vorzuziehen, da die
Basis letzterer doch sehr schmal ist: man beachte die semantischen
Divergenzen der verglichenen Wörter sowie den Wirkungsbereich,
den das Suffix
-āl des Toch. sonst hat (es erscheint nur bei lebendigen toch. Verben wie in A
cwāl »viande« zu AB
çu-/çwā-
»manger«; W. Thomas sieht in dem Suffix eine Substantivierung
des Verbaladjektivs II auf
-l.
13 Eine Verbalwurzel ist VW's
*ā̆ps-
aber doch im Toch. genauso wenig wie in den verglichenen
Sprachen).
Es bleibt noch nachzutragen, daß VW in vielen Punkten eine
gewisse Nachlässigkeit zeigt gegenüber dem Material anderer
Sprachen, das er in seine Betrachtungen einbezieht. So werden
lat. Beispiele wahllos mit oder ohne Längenbezeichnung angeführt
(ebenso fehlt die zweite Länge des einzigen hebr. Wortes
tōrāh, S. 506 s.v. A
tiri); die air. Längen werden teils durch ̄,
teils durch ́ wiedergegeben. In balt. und slaw. Sprachen werden
Intonations- und Akzentangaben ebenso inkonsequent gehandhabt: russ. Akzente fehlen z.Tl.,
14 der lit. Schleifton erhält bald ̃,
bald ̂. Verben ebendieser Sprachgruppen werden teils im Inf.,
teils in der 1. Ps. Sg. Präs. angegeben.
15 Sehr inkonsequent ist
auch die Schreibung sloven. Beispielswörter:
mεžím S. 297, aber
rệšek statt
rệšεk S. 404, ferner
čuti statt
čúti S. 690,
molė́ti statt
molẹ́ti S. 277. Schwerer wiegen Fehler wie lett.
lezu statt
lecu
S. 271; aksl.
žuju statt
žują S. 490.
16 Auch die Beispiele des Buch-pahl. teils zu transskribieren, teils zu transliterieren, ist nicht
geschickt.
Vor allem die Menge dieser Unstimmigkeiten muß den Benutzer
verunsichern; es wäre dem Kundigen ein leichtes gewesen, sie
anhand des Indexes, der sie alle getreulich auflistet (fehlende
Wörter sind selten; vgl. z.B. Anm. 14), auszumerzen. Die Benutzung des Indexes wird übrigens weiter erschwert dadurch, daß
Dialektwörter (wie bayr.
rebisch und obdt.
rogeln unter »allemand
moderne«) und Wörter älterer Sprachstufen (ačech.
tina unter
»tchèque«, alat.
dingua, duenos etc. unter »latin«) ohne Kennzeichnung bleiben; warum das »petit russe« unter »russe« einbezogen wird, ist nicht einzuschen.
Zusammenfassend läßt sich feststellen:
VW'sche Etymologien bestehen allzu oft nur daraus, daß das
Konsonantengerippe eines toch. Wortes mit dem eines Wortes aus
einer anderen Sprache verglichen wird, um so die Radikale einer
uridg. Wurzel zu rekonstruieren. Vokale gelten dabei kaum etwas,
und auch die Grenzen möglicher semantischer Zusammenhänge
und Bedeutungswandel werden oft überschritten.
17 Zu oft ist die
sich ergebende uridg. Rekonstruktion nichts anderes als ein
Spiegelbild dessen, was im Toch. vorhanden ist. Es ist kein
Wunder, daß es VW auf diese Art und Weise gelingt, mithilfe
des Toch. unerklärte Wörter anderer Sprachen aus ihrer Isolation zu reißen.
18 Natürlich bietet sich diese Etymologisierungsmethode gerade für das Toch. mit seinen (noch) unüberwundenen
Schwierigkeiten an.
So behält das vorliegende Buch seinen Wert nur durch die
Menge des verarbeiteten Materials. Für »la morphologie«, den
geplanten zweiten Teil des Gesamtwerks, der zweckmäßigerweise
einem etymologischen »vocabulaire« hätte vorausgehen sollen,
bleibt dem Verf. ein sichereres Auge für die Grenze zwischen
Etymologie und Spekulation zu wünschen.
Jost Gippert.