Remigius Geiser, Salzburg (Österreich/Austria)
Grundkurs in klassischem Zimbrisch:
Anhang:
Winterliche Texte
Course in Standard Cimbrian:
Supplementum: Texts for the Winter Season
Maria de biil zarte (16. Jh.)
Ais un Snea (Hans Begenbint Sattler)
Nòch Bainacht (Sergio Bonato Kuns)
Simbrisch Fassong
Maria de biil tzarte
Maria de biil raine,
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Interlinearversion:
Maria, die viel zarte
Maria, die viel reine,
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Übersetzung:
Maria, die sehr zarte
Maria, die sehr reine, erlitt große Seelennot um unseren
Herrn Jesus Christus, welcher für alle Welt ein Tröster ist.
Sie gingen in aller Frühe und kehrten zurück mit dem Bericht,
daß Christus auferstanden sei, welcher für alle Welt ein
Befreier ist.
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Translation:
Mary the very delicate one
Mary, the very pure one
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Kommentar:
Der Text, der aus dem 16. Jahrhundert stammt, ist schon unzählige Male publiziert und kommentiert worden, sodaß ich mir die Referenzen sparen kann. Die vorliegende Version findet sich buchstabengetreu in der Liedersammlung "Canti Cimbri" (publiziert ca. 1996 von Sergio BONATO, Aldo MENTI und Pierangelo TAMIOZZO) des Zimbrischen Kulturinstituts in Robaan. |
Commentary:
This text, which dates from the 16th century, has been published and commented numerous times. The present version is to be found in the collection Canti Cimbri (ed. ca. 1996 by Sergio Bonato, Aldo Menti and Pierangelo Tamiozzo, published by the Cimbrian Cultural Institute in Robaan). |
"bo"
In beiden Strophen beginnt die letzte Zeile mit "bo", welches aber zwei verschiedene Deutungen zuläßt. Zum einen die Auffassung als zimbrisches Universal-Relativpronomen "ba" (mitunter variiert als "da"), welches identisch ist mit dem heutigen bairischen Universal-Relativpronomen "wo" (des buach, wo da fåda nachdd glesn håd = das Buch, welches Vater gestern abend las).1 Beiden liegt das mittelhochdeutsche "wa" zugrunde. Dieses wird im Bairischen durch die bairische a-Verdumpfung zu "wo". Im Zimbrischen hingegen wird dieses "wa" durch die Schließung des bilabialen w zu "ba".2 Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß wir hier im zimbrischen Text nicht "ba" haben, sondern die Form "bo" mit dem verdumpften a. Ein verdumpftes a kommt aber in zimbrischen Texten der 7 Gemeinden n i e m a l s vor. Vielmehr ist ja das unverdumpfte a die eigentliche zimbrische Kennlautung, wodurch es sich jederzeit sofort von den übrigen bairischen Dialekten unterscheiden läßt. Allenfalls könnte man noch argumentieren, daß dieses zimbrische Lied ja aus dem 16. Jahrhundert stammt, also aus einer Zeit, als noch viele Priester aus dem binnenbairischen Sprachraum hier wirkten und auch entsprechendes Liedgut mitbrachten. Tatsächlich ist das vorliegende Lied auch förmlich überladen mit Formen einer gemeinbairischen oder sogar gemein-oberdeutschen Kirchensprache. In diesem Rahmen ließe sich, mit viel Großzügigkeit, evt. auch noch ein verdumpftes a unterbringen. Die Alternative wäre, in diesem "bo" die Präposition "von" zu sehen. Dieses kommt im Zimbrischen der 7 Gemeinden gelegentlich in der Form "võ" vor, in der das terminale n völlig in der Nasalierung des o aufgegangen ist. Da ferner im vorliegenden Text auch andere Wörter tobàllerisch überformt sind ("biil" statt standardzimbrisch-sleegherisch "viil", "braitar" statt standardzimbrisch-sleegherisch "vraitar"), kann man auch ein "bõ" statt "võ" erwarten. Das Problem ist aber, daß es grammatisch schlecht paßt. |
bo
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"ghinghent"
Bei dem Ausdruck "se ghinghent" (="sie gingen") stört auf den ersten Blick das terminale t, das zwar in der dritten Person Plural Indikativ Aktiv Präsens im Zimbrischen obligat ist, im Indikativ Präteritum aber deplaziert erscheint, entsprechend dem alt- und mittelhochdeutschen Flexionssystem. Es ist aber zu bemerken, daß z.B. in den zimbrischen Fabeln des Simeone Domenico Frigo Metel von Robaan (1977) dieses t immer steht, auch in der dritten Person Singular des Indikativ Praeteritum. Man könnte hier evt. an eine falsche Restitution denken nach dem Vorbild des Präsens. Jedenfalls tritt es in unserem Text nicht konstant auf, wie das Wort "khèerten" in der folgenden Zeile zeigt. |
ghinghent
In the expression se ghinghent ("they went"), the word-final -t presents a problem. It is obligatory in the 3rd person plural of the present tense, but not in the past tense, just as in Old and Middle High German. In the Cimbrian fables (1977) by Simeone Domenico Frigo Metel of Robaan, however, this -t always also appears in the past tense. This might be an analogy to the present tense. In our text, the -t does not appear systematically, as khèerten in the next line shows. |
"braitar"
Dieses Wort, dem ein standardzimbrisch-sleegherisches "vraitar" entspricht (s.o.), bietet zwei Übersetzungsmöglichkeiten. Einerseits liegt die Bedeutung "Befreier, Erlöser" sehr nahe. Andererseits könnte es vielleicht auch aus der gleichen Wurzel abgeleitet werden, aus der der zimbrische "vraitof" und der bairische "frajdhof" (="Friedhof") entstanden sind, wodurch sich das t erklären ließe. In diesem Fall wäre es als "Beschützer" oder "Friedensbringer" zu übersetzen. |
braitar
This corresponds to Standard Cimbrian vraitar (see above) and might be interpreted in two ways: On the one hand, the translation "saviour" seems probable, on the other, it may also be derived from the root found in Cimbrian vraitof / Bavarian frajdhof (cemetery), which would explain the -t-. In this case, it would mean "protector" or "bringer of peace". |
Anmerkungen:
1Gildo Bidese: Nach Grimm wurde die Form "wo" als Universalpartikel für das Relativpronomen erst ab dem 16. Jahrh. in Deutschland bzw. auch im süddeutschen Sprachraum geläufig und wurde im Geschriebenen immer vermieden und als schlechter Stil angesehen. zurück 2Gildo Bidese: Im zimbrischen Katechismus von 1602 wird nur einmal die Partikel "ba" als Relativpronomen verwendet, an allen anderen Stellen, die ein Relativpronomen erfordern, werden die Personalpronomen verwendet. Ansonsten hat die Partikel "ba" im Katechismus die Lokalbedeutung "wo". zurück |
Notes:
1Gildo Bidese: According to Grimm's dictionary the particle wo as a universal relative pronoun came into use in Germany and the whole southern German-speaking area only in the 16th century and has always been avoided and considered bad style in writing. back 2Gildo Bidese: In the 1602 Cimbrian Catechism the particle ba is only used once as a relative pronoun, elsewhere ba is used in the meaning "where". In all other instances requiring a relative pronoun, the personal pronouns are used. back |
Ais un Snea
As bia de dinkh saint heveghe,
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Interlinearversion:
Eis und Schnee
Alswie die Dinge sind heavy (=schwierig),
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Übersetzung:
Eis und Schnee
Wie schwierig die Dinge sind, kann uns das Jahr
zeigen, wo der Tag vom Morgen bis zum Abend
läuft.
In wenigen Monaten macht die Zeit noch ihre
Runde, irgendeinmal stirbt der Mensch, wir sehen
ihn nicht mehr.
Welcher Mensch, auch der stärkste, könnte uns
auch nur einen einzigen Augenblick sicherstellen,
und (sicherstellen,) daß Lachesis nicht
abschneide, was Atropos gesponnen hat.
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Translation:
Ice and Snow
How difficult things are
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Kommentar:
Das Gedicht "Ais un Snea" (hier so betitelt nach dem Textanfang der ersten Strophe; der eigentliche Titel lautet: "Gasangh ûbar n' Langhez") stammt von dem berühmten zimbrischen Dichter Hans Begenbint Sattler (Begenbint = Wäge den Wind = Pesavento), der auch einer der Regenten der zimbrischen Hauptstadt Sleeghe war und erschossen wurde, als die Franzosen das erste Mal kamen.
Es wurde wissenschaftlich editiert auf Seite 43
bis 46 in dem folgenden empfehlenswerten Werk
(im weiteren HK genannt):
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Commentary:
The Poem Ais un Snea (thus cited here, following the beginning of the first line, its real title is Gasangh ûbar n' Langhez) was written by the famous Cimbrian poet Hans Begenbint (loan translation of the Italian name Pesavento) Sattler, who also was one of the rulers of the Cimbrian capital Sleeghe and was shot when the French came for the first time. There is a scientific edition of the poem on pages 43-46 of the recommendable work (cited as HK here)
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Es muß als Glücksfall angesehen werden, daß
dieses Fragment aufgefunden wurde, da es einige
Stellen im Text aufklären kann, die bisher dunkel
bleiben mußten.
Beide Textversionen weisen einzelne verdorbene Stellen auf. Erfreulich ist jedoch, daß mit einer einzigen Ausnahme alle verdorbenen Stellen durch die jeweils andere Version aufgeklärt werden können. Einige Stellen differieren echt, das heißt, daß beide Versionen unterschiedlich lauten, aber beide grammatisch korrekt sind und einen stimmigen Sinnzusammenhang ergeben. In diesen Fällen vermag ich nicht zu entscheiden, welches die ursprüngliche Version ist. Auffällig ist, daß die hier vorliegende Version besser im Versmaß liegt als HK. |
It is a lucky chance that this fragment was found
since it clarifies some passages which had hitherto remained disputed.
There are corrupt passages in both versions. Luckily the respective other version shows what the text should be like. Some passages really differ in the wording (both grammatically correct and making sense, however) so that it is difficult to decide which version is the original one. It is striking that the present version is, from the metrical point of view, better than that in HK. |
Einzelkommentar (Zeilen durchnummeriert von 1
bis 12):
1 "As bia" (="alswie") im Sinn von "wie" kommt im Zimbrischen der 7 Gemeinden nur selten vor, kann aber belegt werden. (So heißt ja auch unser Mailing-List: "asbìa biar".) Etwas wahrscheinlicher erscheint mir daher die Version HK: "Az hia ..."="Daß hier ...". 2 Daß "iar" als "Jahr" zu deuten ist, geht ganz klar aus HK hervor, wo in wünschenswerter Eindeutigkeit "jaar" steht. Jedoch haben wir in dieser Zeile die einzige dunkle Stelle, die ich weiterhin nicht aufzuklären vermag. Wo ein normaler Infinitiv "zooghen" (="zeigen") zu erwarten wäre, haben beide Stellen noch ein Suffix: hier "tzooghenten" (was dem Partizipialadverbiale entspräche)3 und bei HK "zoghent" (was der dritten Person Plural Präsens Indikativ Aktiv entspräche). Eine entfernte Möglichkeit der Spekulation bestünde darin, in dem Zusatz "ten" bzw. "t" eine Verschreibung aus "tzon" (="zu") anzunehmen, was eine welsche Dativkonstruktion ergäbe ("tzon üs" = "zu uns" statt einfach "üs" = "uns"/Dativ). Doch mag ich mich mit dieser Auflösung nicht wirklich anfreunden. Ich weiß hier nicht mehr weiter. Vielleicht aber fällt unseren beiden Damen in Innsbruck (Karin Heller und Barbara Stefan) noch etwas dazu ein. Nach meinem Urteil sind die beiden derzeit weltweit führend im Aufklären schwieriger zimbrischer Textstellen. 7 "dar man" kann nicht nur als "der Mann" übersetzt werden, sondern auch als "der Mensch", entsprechend den Verhältnissen im Welschen. Die hier vorliegende Version "an botta" (="irgendwanneinmal") paßt besser in den Zusammenhang als die HK-Version "an bònan" (="ohne Weinen"). 10 "stunt" hat im Zimbrischen noch die mittelhochdeutsche Bedeutung "Augenblick", "Sekunde". 11+12 Beide Versionen korrigieren sich hier gegenseitig, sodaß die bisher schwierigste Stelle vollständig aufgeklärt werden kann. HK zeigt uns, daß statt "met" (="mit"), was keinen Sinn ergibt, "net" (="nicht") stehen muß. Weiterhin verbessert HK unser "sölle" zu "zölle", und das ergibt im Finalsatz die dritte Person Singular Präsens Aktiv Konjunktiv von "zöllan" (="abschneiden", cfr. Schmellers "Cimbrisches Wörterbuch" Seite 182). HK schreibt auch "lakesi" statt unserem total verstümmelten "lacha si" und bringt uns damit schon ganz nahe an die Lachesis heran. In Zeile 12 jedoch hat unser Text die absolut korrekte Form "Atrop" statt der arg entstellten "attropo" in HK. Figuren aus der klassischen Mythologie gehören zum beständig wiederkehrenden Inventar der Barockdichtung, sei es im Zimbernland oder anderswo. Lachesis und Atropos, zwei der drei Moiren (Schicksalsgöttinnen), passen also hier voll ins Bild. Allerdings fällt auf, daß bei Herodot die Klotho den Lebensfaden spinnt, die Lachesis ihn zuteilt und die Atropos ihn abschneidet. Bei unserem Hans Begenbint wird er aber von der Atropos gesponnen und von der Lachesis abgeschnitten. Daß er damit nicht ganz alleine dasteht, zeigen meine Fachkollegen von der Entomologie, welche den Totenkopffalter, der ebenfalls einen Faden spinnt, "Acherontia atropos" getauft haben. Darauf bezieht sich vermutlich auch die Übersetzung "ein Schmetterling" bei HK. |
Comments (numbers refer to the lines):
1
2
7
10
11f.
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Anmerkungen:
3Barbara Stefan: "tzooghenten" ist, wie Remigius Geiser bereits urteilte, die Form des Gerundio, hat aber hier die Funktion des Infinitivs. Ob Textkorruption vorliegt, können wir kaum beurteilen. Nach Bruno Schweizer, Zimbrische Gesamtgrammatik V (Syntax), S. 171ff. des unpublizierten Typoskripts, gibt es Hinweise aus Giazza auf seltene Verwendung des Gerundio anstelle des Infinitivs. zurück |
Notes:
3 Barbara Stefan: As Remigius Geiser says, tzooghenten is gerund by form but used in the function of an infinitive here. It is difficult to decide if the text is corrupt. According to Bruno Schweizer's Zimbrische Gesamtgrammatik V (Syntax) (p. 171ff. of the unpublished typoscript), there is some evidence from the village of Giazza. of the (albeit limited) use of the gerund in place of the infinitive. back |
Gadénkhan daü nacht
vèrre zbòa tausinkh jaar. Gadénkhan den stall in-s ööde lant von Bétlem. Vènnan in an èrmes khintle s gaschénkh me Guuten Hèeren ane óart. |
Ricordare quella notte
lontana duemila anni. Ricordare quella stalla nel deserto di Betlemme. Trovare in un povero bambino il dono infinito di Dio. | |
Gheenan umme naach dar bèlte,
umme naach in gaschìchten, zóa-zo dékhan abe von allame bas bill-s mòonan. Dékhan abe, as-s laip ist stérban hörtan vor d andarn, und as dar tòat ist leeban hörtan in d andarn. |
Andare ai margini del mondo,
ai margini della storia, per scoprire il senso di tutto. Scoprire che la vita è un continuo morire per gli altri, e che la morte è un continuo vivere negli altri. | |
Züntan au gadìnghe
in d ögnar nacht asò tunkhel. Und snappan in bèkh mettanàndar naach naüen taaghen. Asò is-ta nòch Bainacht. |
Accendere speranza
nella nostra notte oscura. E riprendere insieme il cammino verso nuovi giorni. Così è ancora Natale. | |
gakhèart in zimbrisch vomme Remìgio Goasar | Sèrgio Bonàto Kuns |
Simbrisch Fassong | Carnevale Cimbro | Zimbrischer Fasching |
Hoite ist Fiistakh bòosar,
frittoln on grostoli; hoite ist Braitakh gnokoléar, hoite ist Sastakh bigoléar, hoite ist Suntakh, brointe, Mentakh éssan 'siban bérte, Ertakh éssan fomài 's skloppet, Mittoch gheenan lémman de gabaighet éssa on machan penitenza. |
Oggi è giovedì grasso,
frittelle e crostoli; oggi è venerdì gnoccolaro, oggi è sabato bigolaro, oggi è domenica, parenti, lunedì mangeremo sette volte, martedì fino a scoppiare, mercoledì andremo a prendere la cenere benedetta per fare penitenza. |
Heute ist feister Donnerstag,
Schmalznudeln und Krusteln; heute ist Knödel-Freitag, heute ist Spaghetti-Samstag, heute ist Sonntag mit der Verwandtschaft, am Montag siebenmal essen, am Dienstag essen bis zum Bersten, am Mittwoch zum Empfang der geweihten Asche gehen und Buße tun. |
schriftdeutsche Übersetzung von Remigius Geiser |