Eva Tichy
Ein Vortragstitel, der als Frage formuliert ist und ins Zentrum des eigenen Faches zielt, verheißt ohne nähere Erläuterung nichts Gutes: Wer sein Thema in dieser Weise umschreibt, weist damit unter Umständen auf berufsbedingte Selbstzweifel hin, die er vor seinen Zuhörern ausbreiten und - so ist zu befürchten - aus der Position des Angegriffenen heraus entkräften will. Sicherlich: Gegen Selbstzweifel und die zugehörigen Rechtfertigungsversuche ist zur Zeit wohl kein Geisteswissenschaftler gefeit; erst recht kein Angehöriger des Faches Vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft - auch kurz Indogermanistik genannt -, das innerhalb der mehrfach aufgespaltenen, über den Umfang eines Universitätsfaches längst hinausgewachsenen Sprachwissenschaft nur eine kleine, retrospektiv ausgerichtete Spezialdisziplin ausmacht. Unsere Fragestellung lautet jedoch nicht, wie es das klassische Vorbild immerhin nahegelegt hätte: Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Vergleichende Sprachwissenschaft? Die Selbstrechtfertigung eines "Kleinen Faches" ist hier nicht oder nur ganz am Rande beabsichtigt. Unter Wohlmeinenden braucht es dazu ohnehin nicht viele Worte: Ihr Existenzrecht leitet die Indogermanistik, wie jede andere Wissenschaft auch, letzten Endes aus der wissenschaftlichen Neugier her, die den einzelnen Forscher antreibt und in der er sich seinen Gesprächspartnern, Zuhörern und Lesern verbunden weiß; oder, vom Objekt her gesehen: aus der Faszination, die der Forschungsgegenstand selbst ausübt, und das keineswegs nur auf Fachleute. In zweiter Linie sind dann gewisse technische Merkmale zu nennen, die die Indogermanistik erst zu einer funktionsfähigen Wissenschaft machen: ein von mehreren Generationen angesammeltes Fachwissen, das weitertradiert, aber auch ständig vermehrt, verbessert und erneuert wird; eine nachprüfbare, weil in logischen Schritten ablaufende, von empirischen Beobachtungen ausgehende Forschungsmethode; vor allem aber die Zuverlässigkeit der Ergebnisse, soweit sie dem Wissensstand entsprechen und den methodischen Anforderungen genügen. Es versteht sich von selbst, daß nur zuverlässige - das heißt, um der Realität gerecht zu werden: beim derzeitigen Forschungsstand als zuverlässig geltende - Ergebnisse ohne Bedenken an interessierte Nachbarfächer weitergegeben werden und somit dem interdisziplinären Austausch dienen können.
Auf die Zuverlässigkeit der Ergebnisse, die von seiten der Indogermanistik gewährleistet sein muß, zielt der zweite Teil der Titelfrage ab: Mit welcher Sicherheit rekonstruieren wir heute das Urindogermanische? Die Frage Warum? ist dagegen aus der Sicht der Nachbarfächer gestellt. Erwarten die philologischen und sprachwissenschaftlichen Disziplinen, mit denen wir im Austausch stehen oder gegebenenfalls in Austausch treten könnten, von uns nicht Erkenntnisse über de facto bezeugte Sprachen und zweifelsfrei belegte Erscheinungen des Sprachwandels, den wir über Jahrhunderte, insgesamt sogar über dreieinhalb Jahrtausende hinweg anhand von Texten beobachten können? Sollten wir also unsere Forschungsschwerpunkte nicht lieber nach diesem Bedarf ausrichten, statt uns, ineinander verbissen, unter den verständnislosen bis amüsierten Blicken der Umstehenden um rekonstruierte indogermanische Sternchenformen zu streiten?
Warum die Rekonstruktion des Urindogermanischen gerade heute im Zentrum der Fachdiskussion steht - was sich an der Zahl der einschlägigen Diskussionsbeiträge, deutlicher noch am emotionsgeladenen Ton der Auseinandersetzung ablesen läßt -, ist aus zwei Gründen verständlich.
Erstens stellen rekonstruierte Wörter und Wortformen der indogermanischen Grundsprache für uns Indogermanisten, aber gelegentlich auch für interessierte Vertreter altertumswissenschaftlicher Nachbardisziplinen, einen Wert an sich dar. Dazu gleich Näheres.
Zweitens, und das ist in der Praxis von Forschung und Lehre wichtiger: Wir benötigen urindogermanische Ansätze, um sachgerecht argumentieren zu können - auch wenn es uns eigentlich nur darum zu tun ist, erklärungsbedürftigen Phänomenen in bezeugten indogermanischen Einzelsprachen auf die Spur zu kommen.
Daß urindogermanische Rekonstrukte - nicht in jedem Fall, aber doch recht häufig - einen Wert an sich darstellen, soll hier nur kurz erläutert werden.
Der Vergleich einander entsprechender Wörter, Formen und Syntagmen indogermanischer Einzelsprachen, die sprachhistorische Interpretation der festgestellten Entsprechungen und die abschließende Rekonstruktion der urindogermanischen Vorform, die jeweils allen einzelsprachlichen Fortsetzern zugrundeliegt - dieses Verfahren eröffnet bis jetzt den einzigen sicheren Zugang zu einer Sprache und Kultur des 4. Jahrtausends v. Chr., die in direkter Traditionslinie mit unserer eigenen Sprache und Kultur zusammenhängt. Die Rekonstruktion des urindogermanischen Wortschatzes ist daher vielfach von kulturhistorischem Interesse begleitet. Aufgrund des eben beschriebenen Verfahrens wissen wir z.B. - unabhängig davon, ob archäologische Funde hinzukommen -, daß die urindogermanische Sprechergemeinschaft einen Terminus technicus für das um die Nabe bewegliche Rad besaß und den vollständigen Satz Räder, der zu ein und demselben Wagen gehörte, mit dem hiervon abgeleiteten Kollektivum bezeichnete. Vergleichende Rekonstruktion führt zum Ansatz eines maskulinen Singulars *kwékwlos "Rad", eines zugehörigen maskulinen Plurals *kwékwls "Räder" und eines Kollektivs - bzw. neutralen Plurals - *kwekwláh2 "Satz Räder" (vgl. ved. cakrá- m.n., Pl. cakr, cakrṇi; gr. κύκλος, Pl. κύκλοι und κύκλα)[i].
Von wirtschaftsgeschichtlichem Interesse ist etwa die Tatsache, daß im Urindogermanischen bereits ein Wort für "kaufen" (im Sinne von "eintauschen") gebräuchlich war. Außer den Lautfolgen, mit denen im Paradigma die beiden Aspektkategorien ausgedrückt wurden - *kwrináh2 - für den Stamm des Nasalinfixpräsens (ved. kwrīṇti, toch. B kärnā-sk-, air. crenaid), *kwrih2 - für den zugehörigen Wurzelaorist (gr. πρ ίατο = toch. B käryāte, air. Konj. ni-cria) -, sind uns auch die syntaktischen Eigenschaften dieses rekonstruierten Verbums bekannt: das gekaufte Objekt stand, wie zu erwarten, im Akkusativ, der Kaufpreis hingegen im Instrumental. Als Sprecher des Urindogermanischen kaufte man also etwas mittels des dazu notwendigen Gegenwerts, nicht - wie wir heute mit Rücksicht auf den wechselseitigen Austausch sagen - für einen entsprechenden Gegenwert.
Ein Forschungsgegenstand für sich ist die sog. "indogermanische Dichtersprache". Aus dem Vergleich übereinstimmender syntaktischer Fügungen und Nominalkomposita, die in hymnischer oder epischer Dichtung belegt sind - das Vergleichsmaterial entstammt hauptsächlich den Liedern des Dgveda und den homerischen Epen - lassen sich in bestimmten Fällen Syntagmen und Wörter rekonstruieren, die von der gemeinsamen Grundsprache aus durch ununterbrochene dichtersprachliche Tradition bis in die erhaltenen Texte gelangt sind. So entspricht z.B. der homerischen Formel μ έγα κλέος "großer Ruhm", die in der Ilias dreimal, in der Odyssee weitere vier Male nach der Mittelzäsur des Hexameters steht, im Dgveda die gleichbedeutende Formel máhi śrávas (10 Belege, davon 9 am Versende). Diese beiden Syntagmen, die jeweils in traditioneller Weise verwendet sind, lassen sich Laut für Laut auf das urindogermanische Syntagma *mé2 léos zurückführen. Die Wortfolge Adjektiv-Substantiv entspricht der Normalstellung der Kompositionsglieder in Possessivkomposita indogermanischer Sprachen, wie z.B. in den Personennamen gr. Μεγακλῆς "der großen Ruhm besitzt" oder dt. Hartmut "der tapferen Sinn hat".
Über die "indogermanische Dichtersprache" und die darauf aufbauende, nicht zuletzt auch durch das Germanische bekannte Art der Namengebung bekommen wir Einblick in die Lebens- und Vorstellungswelt einer Bevölkerungsschicht, deren Sinnen und Trachten sich auf mehr richtete als auf das bloße Überleben - schon im 4. Jahrtausend v. Chr. scheint es einen indogermanischen Kriegeradel gegeben zu haben. Diese Feststellung bietet freilich keinen Anlaß zum Hochmut. Während die Sprecher des Urindogermanischen, wie wir annehmen müssen, noch als Viehzüchter und Gelegenheitsbauern in Familienverbänden durch die südrussische Steppe zogen, gab es im Orient bereits wohlorganisierte Stadtkulturen.
Ich breche hier ab; mehr ist wohl nicht erforderlich, um die indogermanistische Rekonstruktion von ihrer - im weitesten Sinne - altertumskundlichen Seite zu rechtfertigen. Natürlich ist die kulturhistorisch orientierte Rekonstruktion von Einzelwörtern schon seit den Anfängen der Vergleichenden Sprachwissenschaft betrieben worden; jede etymologische Deutung, die zum Ansatz eines urindogermanischen Wortes führt, gibt in irgendeiner Weise auch Aufschluß über die Vorgeschichte. Auf diesem Gebiet ist daher vieles geklärt, anderes allem Anschein nach nicht endgültig zu klären; auf überraschende Lösungen wagt man kaum mehr zu hoffen, geschweige denn danach zu suchen. Präzisierungen sind jedoch möglich und an allen Enden notwendig, insbesondere auch im Bereich der "indogermanischen Dichtersprache", die - nach zahlreichen Vorarbeiten verschiedener Gelehrter - erst Mitte der sechziger Jahre zum ersten Mal systematisch behandelt worden ist. Die verdienstvolle, aber sicher nicht abschließende Darstellung stammt von Rüdiger Schmitt und trägt den Titel "Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit".
Wie bereits angedeutet, wird die Rekonstruktion des Urindogermanischen nicht nur um ihrer selbst willen betrieben; wir benötigen die Rekonstrukte auch deshalb, weil sie ein unabdingbarer Bestandteil unseres Argumentationsverfahrens sind. Um deutlich zu machen, was gemeint ist, will ich das charakteristische Schlußverfahren der Indogermanistik noch einmal ausführlich und in vollständiger Form beschreiben.
Eine sprachhistorische Argumentation der gemeinten Art läuft, ohne daß dies in jedem Fall deutlich werden muß, in fünf Schritten ab. Dabei spielt es keine Rolle, ob einzelsprachliche Phänomene erklärt werden sollen oder Erkenntnisse über die indogermanische Grundsprache angestrebt werden; das Verfahren ist von der Zielsetzung unabhängig.
1. Schritt: Erfassung der Vergleichsmaterials, d.h. möglichst vollständige Sammlung der relevanten einzelsprachlichen Belege, je nach Sachlage über Indizes oder unmittelbar durch eigenständige Textlektüre.
2. Schritt: Sprachhistorische Beurteilung des Vergleichsmaterials vor dem Hintergrund der einzelsprachlichen Entwicklungstendenzen. Bevor die vergleichende Rekonstruktion einsetzt, muß nach Möglichkeit geklärt werden, ob die zum Vergleich herangezogenen Fakten jeweils aus einer voreinzelsprachlichen Epoche ererbt sind oder ob sie erst mit den Mitteln der betreffenden Einzelsprache neu geschaffen wurden. Junge Bezeugung spricht im Zweifelsfall für einzelsprachliche Neuerung; alte Bezeugung schließt Neuerungen nicht aus.
3. Schritt: Ansatz einer gemeinsamen Vorform, aus der - wenn die Lösung zutrifft - nach den Prinzipien von Lautgesetz und Analogie alle einzelsprachlichen Fortsetzer hergeleitet werden können.
4. Schritt: Die postulierte, vorerst nur versuchsweise angesetzte Form ist mit morphologisch entsprechenden Formen zu vergleichen, die auf anderem Wege und möglichst auch aus dem Material anderer indogermanischer Einzelsprachen rekonstruiert worden sind. Das heißt: Um in den Rang eines Rekonstrukts erhoben zu werden, hat das Postulat einen synchronischen Test zu bestehen. Die betreffende Wortform, der betreffende Wortstamm, das betreffende Syntagma muß - soweit sie bekannt sind - den Regeln des urindogermanischen Sprachsystems genügen. (Auf die Streitfrage, ob es ein urindogermanisches Sprachsystem überhaupt gegeben hat und inwieweit dieses System der vergleichenden Rekonstruktion zugänglich ist, kommen wir zurück).
Selbstverständlicher als dieser "Systemtest" ist die diachronische Überprüfung:
5. Schritt: Zur Verifizierung der Rekonstruktion müssen die Entwicklungslinien nachgezogen werden, die vom urindogermanischen Ansatz bis zu den erhaltenen Vergleichsformen führen. Die Entwicklung sollte entsprechend den bekannten Lautgesetzen und nach den Gesetzen des paradigmatischen Wandels verlaufen sein; semantische Veränderungen bedürfen einer überzeugenden sachlichen oder psychologischen Motivation. Verstößt das Resultat gegen eines der beteiligten Lautgesetze, so muß entweder der betreffende Lautwandel neu beschrieben werden, oder es wird für den Einzelfall eine plausible Sondererklärung notwendig.
Aus dem Verbalsystem können z.B. zwei rekonstruierte Formenpaare angeführt werden, die sowohl den synchronischen als auch den diachronischen Test mit Erfolg bestanden haben. Die 3. Sg. *gwhén-ti "er schlägt" oder "erschlägt" verhält sich zur 3. Pl. *gwhn-énti ebenso wie die 3. Sg. *h1és-ti "er ist" zur 3. Pl. *h1s-énti. In beiden Fällen handelt es sich um Indikativformen des Wurzelpräsens, die den regelmäßigen Akzent- und Ablautwechsel zwischen Wurzel und Singular- bzw. Pluralendung zeigen. Außerdem lassen sich aus diesen urindogermanischen Vorformen alle einzelsprachlichen Fortsetzer ableiten. Im Indoiranischen (mit ved. hánti = av. jaiṇti, ved. ghnánti = av. -γnṇti bzw. ved. ásti = av. asti, ved. sánti = av. hṇti), Griechischen (myk. esti*, ehensi; ion.-att. ἐστί, εἰσί) und Germanischen (dt. ist, sind) ist die Entwicklung vollkommen lautgesetzlich verlaufen. Im Hethitischen (ešzi, ašanzi bzw. kuenzi, kunanzi) und Lateinischen (est, sunt - im Unterschied zu osk.-umbr. est, sent) macht sich hingegen der paradigmatische Wandel bemerkbar, in dessen Verlauf jeweils die Kontinuante der athematischen Endung uridg. *-énti durch die Kontinuante des thematischen Ausgangs *-onti ersetzt wurde.
Warum ist die Rekonstruktion aber nun unbedingt notwendig, wenn eigentlich nur eine verläßliche Auskunft über die einzelsprachlich bezeugten Phänomene erteilt werden soll?
Was die genannten Verbalformen betrifft, läßt sich diese Frage wie folgt beantworten: weil das lautliche Verhältnis von ved. hánti = av. jaiṇti "er schlägt" zu ved. ghnánti = av. (ni-)γnṇti "sie schlagen" nur auf einer Lautstufe erklärbar ist, auf der im Singular eine Palatalisierung des anlautenden Konsonanten möglich war (also nicht der Vokal a, sondern noch ein e folgte); und weil das lautlich-morphologische Verhältnis von lat. est zu sunt, dt. ist zu sind allein durch den Ansatz der ablautenden urindogermanischen Vorformen als eine letzten Endes regelmäßige Erscheinung begriffen werden kann.
Immerhin - ein erhellender Vergleich zwischen diesen Formen indogermanischer Wurzelpräsentien läßt sich auch auf der Oberfläche der überlieferten Einzelsprachen durchführen; wer sich damit zufriedengibt, braucht die Sternchenformen nicht. Es gibt aber auch Fälle, in denen ohne Rekonstruktion nicht einmal ein sinnvoller Vergleich möglich ist. Hierfür nun ein Beispiel, das nicht zum festen Bestand gehört.
Im Vedischen sind - von der zweitältesten Textschicht an - die sog. cvi-Bildungen belegt. Dabei handelt es sich in der Regel um Ableitungen thematischer Adjektiva, bei denen der stammauslautende Themavokal -a- durch den unflektierten Ausgang - ersetzt ist. Formen dieser Art werden verwendet, wenn die betreffenden Wörter in Verbindung mit der Kopula bhū "werden" oder k "machen" das Prädikat bilden, die Prädikatsgruppe als Ganzes also den Übergang in einen neuen Zustand bezeichnet. Außerdem ist zu beobachten, daß die Sonderformen auf – gegenüber den zugrundeliegenden Adjektiva (zu denen sie syntaktisch in Konkurrenz treten) eine speziellere, unter Umständen auch metaphorische Bedeutung haben. So bedeutet z.B. mithun karoti - dies der häufigst belegte Fall - in der vedischen Prosa speziell "man bringt (Haustiere) zur Paarung", entsprechend auch mithun bhavanti "sie kommen zur Paarung"; das zugrundeliegende Adjektiv mithuná- ist dagegen nur in der vergleichsweise unspezifischen Bedeutung "paarig" belegt. - Der zweigliedrige Ausdruck sv k (zu svá- "eigen") besitzt die einheitliche Bedeutung "sich aneignen"; śyet k (zu śyetá- "hell") bedeutet anscheinend "(Haustiere) zutraulich werden lassen" (so daß sie nicht vor einem weglaufen).
Dem vedischen Konstruktionstyp mithun karoti entspricht auf seiten des Lateinischen, zumindest in formaler Hinsicht, eine syntaktisch auffällige Genetivkonstruktion: gemeint sind Ausdrücke vom Typ magnī facere "für wichtig halten, hochschätzen", parvī facere "geringschätzen", minimī facere "für nichts achten" usw. Innerhalb des lateinischen Sprachsystems handelt es sich hier um den sog. Genetivus pretii; die Formen auf -ī gehören zum Paradigma der Adjektiva magnus, parvus usw. Nun wird sich mancher mit Recht fragen: Was hat der Genetiv bei lat. facere (das in diesen Fällen zudem nicht "machen", sondern soviel wie "einschätzen", lat. aestimāre, bedeutet) mit den cvi-Bildungen bei ved. karóti gemein? Sind die beiden einzelsprachlichen Phänomene überhaupt miteinander vergleichbar?
An der Oberfläche sind sie es wohl nicht - inhaltlich bestehen so gravierende Unterschiede, daß es sich ohne weiteres um zwei voneinander unabhängige Phänomene handeln könnte. Wenn die Nebeneinanderstellung überhaupt einen Erklärungswert haben soll, dann muß versucht werden, für beide Konstruktionstypen einen gemeinsamen Nenner zu finden - und das heißt bei sprachhistorischer Betrachtung: den gemeinsamen Ausgangspunkt zu rekonstruieren.
Über die Herkunft der cvi-Bildungen sind zur Zeit zwei konkurrierende Hypothesen im Umlauf:
die traditionelle, kürzlich von Bernfried Schlerath befürwortete Ansicht, nach der es sich um den unflektierten Stamm einer Zugehörigkeitsbildung auf –- (oder *-íh2-) handelt;
die Herleitung aus dem Instrumental Sg. substantivischer i-Stämme (mit Suffix -ǐ-, das an die Stelle des Themavokals tritt); für letztere Deutung hat sich Jochem Schindler ausgesprochen.
Beide Hypothesen kranken gleichermaßen daran, daß sie keine ausreichende Erklärung für die bezeugte Verwendung der vedischen cvi-Bildungen bieten; lat. minimī facere stünde ohnehin auf einem anderen Blatt. Es gibt aber noch eine dritte Erklärungsmöglichkeit, die ich wenigstens kurz andeuten möchte:
Sowohl ved. mithun karoti (usw.) als auch lat. minimī facere (usw.) lassen sich auf ein grundsprachliches Syntagma zurückführen, in dem als Prädikatsnomen neben der Kopula *dheh1 "machen" die Akkusativform einer Kollektivbildung mit dem Ausgang *-íh2 - oder der damit identische Akk. Pl. Neutrum eines i-Stammes - Verwendung fand. Legt man ein urindogermanisches Syntagma zugrunde, das aus einer Form auf *-íh2 mit Kollektivfunktion und dem (wie üblich mit doppeltem Akkusativ verbundenen) Verbum "machen" besteht, so läßt sich daraus sowohl der vedische als auch der lateinische Konstruktionstyp ableiten. Einen Teil der cvi-Bildungen kann man geradezu noch als Kollektiva auffassen, so z.B. in den Fällen mithunī karoti "macht zu einem Paar, das (bzw. zu einer Herde, die) die Paarung vollzieht", tīvr karoti "macht zu einer bitteren Substanz", sv kurute "macht zu seinem Eigentum"[ii]. Auf der anderen Seite werden die Bedeutungen "gering schätzen, für nichts achten" bei lat. parvī und minimī facere als Weiterentwicklung aus älterem "zur Kleinigkeit machen, zur Nichtigkeit machen" verständlich.
Wenn diese Auffassung zutrifft[iii], läßt sich darauf eine Erklärung des evident systemwidrigen ī-Genetivs aufbauen, der im Paradigma der lateinischen (und keltischen) o-Stämme an die Stelle des grundsprachlichen, auch im Italischen noch belegten Genetivausgangs –oso getreten ist[iv].
Neben dem Konstruktionstyp parvī facere "gering achten" steht im Lateinischen der Konstruktionstyp parvī est "ist von geringem Wert". In Verbindung mit der Kopula esse ist der Genetiv syntaktisch gerechtfertigt; man sagt auch (mit dem Gen. Pl.) decem nummum est "ist zehn Nummi wert". Sobald zu den Syntagmen mit dem Verbum für "machen" also entsprechende Syntagmen mit dem Verbum "sein" hinzugebildet wurden - die es bei den vedischen cvi-Bildungen nicht gibt! -, war der Übertritt in den Bereich der Genetivkonstruktionen vollzogen. Es bleibt dann nur noch anzunehmen, daß der ī-Genetiv von diesem syntaktischen Randbereich her allmählich den ererbten Genetiv auf –oso verdrängt hat. - Unsere Erklärung gilt zunächst für das Lateinische, ist aber auch auf das Keltische übertragbar, das bei der Kopula "sein" vergleichbare Genetivkonstruktionen kennt; ich brauche das hier nicht weiter auszuführen.
Um zum Ausgangspunkt dieses Exkurses zurückzukehren: Es gibt Fälle, in denen ein Indogermanist erst durch Rekonstruktion - im genannten Fall durch die Rekonstruktion eines urindogermanischen Syntagmas - in die Lage kommt, einzelsprachliche Irregularitäten beurteilen zu können. Ob sein Urteil zuverlässig ist und ohne Bedenken weitergetragen werden kann, hängt vom Gelingen des Rekonstruktionsverfahrens ab. Im Falle der cvi-Bildungen und des lateinisch-keltischen ī-Genetivs - das muß deutlich gesagt werden - ist der Beweis noch nicht erbracht.
Wenn der Bearbeiter dieses oder eines ähnlichen Gegenstands aber nun in der Lage gewesen wäre, alle vermeidbaren Fehlerquellen auszuschalten - angenommen also, das Material wäre vollständig erfaßt und sachgemäß beurteilt, die Argumentation so breit wie nötig angelegt, in allen Punkten ausreichend abgestützt und schlechthin überzeugend: könnten wir uns dann sicher sein, daß die rekonstruierte urindogermanische Spracherscheinung so und nicht anders lautete? Mit welcher Sicherheit rekonstruieren wir eigentlich das Urindogermanische?
Die Besternung zeigt es bereits an: Indogermanisten sind weit davon entfernt, ihre Rekonstrukte auf gleiche Stufe mit de facto bezeugten Spracherscheinungen zu stellen. Es handelt sich zugegebenermaßen nicht um Fakten, die schon vor jeder wissenschaftlichen Reflexion über Sprache vorhanden sind, sondern vielmehr um Ergebnisse dieser Reflexion - um die hypothetischen Ergebnisse eines weitverzweigten, dicht vernetzten, mittlerweile schon fast unüberschaubaren Hypothesensystems.
Und dennoch besteht kein Anlaß zu übertriebener Skepsis. Wenn man Aussagen der letzten Zeit vergleicht, so wird - aufs Ganze gesehen - von allen Seiten einem pragmatischen Optimismus das Wort geredet. Diese Diskussion möchte ich im folgenden aufgreifen.
Zunächst muß zu der Frage Stellung genommen werden, ob die indogermanische Grundsprache überhaupt existiert hat und ob dieses Urindogermanische auch wirklich eine Sprache war - eine natürliche Sprache, also das verbale Kommunikationsmedium einer räumlich und zeitlich fixierten Sprechergemeinschaft. Zu diesem Problemkreis hat vor einigen Jahren Jürgen Untermann das Wesentliche gesagt: Die Existenz der Grundsprache nehmen wir nicht bloß an, die Existenz des Urindogermanischen und seiner Sprecher folgt vielmehr über eine längere Schlußkette aus der empirisch beobachteten Arbitrarität des sprachlichen Zeichens.
Zwischen einem Gegenstand oder Begriff, der bezeichnet wird, und der zur Bezeichnung dienenden Lautfolge besteht in der Regel kein ursächlicher Zusammenhang. Wort und Begriff sind einander lediglich konventionell zugeordnet. Diese Konvention gilt jeweils für eine bestimmte Sprechergemeinschaft; daher kann sie auch nur von Mitgliedern der jeweiligen Sprechergemeinschaft an andere Sprecher weitergegeben werden.
Verschiedene Sprachen, zwischen denen kein intensiver Kontakt besteht oder bestanden hat, verwenden daher im Normalfall sehr unterschiedlich lautende Wörter, um ein und denselben Inhalt auszudrücken. Lassen nun mehrere Sprachen bei Elementen des Kernwortschatzes, die nicht der Entlehnung verdächtig sind, auffällige lautliche und morphologische Übereinstimmungen erkennen - wie z.B. das Lateinische und das Deutsche bei den irregulären Verbalformen est bzw. ist und sunt bzw. sind - und häufen sich derartige Übereinstimmungen in einer Weise, daß Zufall ausgeschlossen werden kann, so müssen diese Sprachen miteinander verwandt sein. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Sprachen ist im Prinzip genealogisch zu interpretieren, denn Sprachen werden von Sprechergemeinschaften benutzt und im Sprecherkontinuum weitergegeben - an die eigenen Nachkommen, aber auch an freiwillige oder unfreiwillige Mitbewohner und deren Kinder; in schriftlosen Zeiten gibt es nur diesen einen, direkten Traditionsweg. In der Vorgeschichte der betreffenden Sprachfamilie muß demnach irgendwann einmal eine gemeinsame Grundsprache existiert haben, die von ihren Sprechern an die nachfolgenden Generationen vererbt worden ist - in den eigentlich kommunikationswichtigen Merkmalen unverändert, davon abgesehen jedoch mit kleineren oder größerem Übermittlungsfehlern.
Unser Bild vom Urindogermanischen mag unvollständig
oder sogar verzeichnet sein; für die Existenz
der indogermanischen Grundsprache ist es jedoch ohne Belang, wieviel wir heutzutage
noch über diese Sprache in Erfahrung bringen können. Wenn wir nicht sicher
wissen, von wem, zu welcher Zeit und in welcher geographischen Verbreitung das
Urindogermanische gesprochen worden ist - die Angaben "Südrußland, 4.
Jahrtausend" beruhen nur auf Schätzung -, darf das in der Theorie durchaus
vernachlässigt werden. Zum Vergleich: Eine inschriftlich bezeugte
Trümmersprache hat auch dann existiert, wenn über das Alter und die Provenienz
der Inschriften nichts Genaues bekannt ist.
Die logisch ableitbare Aussage, daß das Urindogermanische als eine natürliche Sprache existiert hat, zieht für die Beschäftigung mit dieser Sprache weitreichende Konsequenzen nach sich. Es ist davon auszugehen, daß die Grundsprache über sämtliche Kommunikationsmittel verfügte, die zu einer natürlichen Sprache vom indogermanischen Typus gehören: einen tendenziell unbegrenzten Wortschatz, in dem es Homonyme und Synonyme gab; ein Phonemsystem, dessen Bestandteile mit einer gewissen lautlichen Variationsbreite realisiert wurden; und schließlich ein System grammatischer Kategorien, ein System von Wortbildungsregeln und ein syntaktisches Regelsystem, die sich bis zu einem bestimmten Grade miteinander überschnitten und an ihrer Peripherie jeweils Ausnahmen zuließen.
Auch für das Folgende kann auf das Beispiel der
Trümmersprachen verwiesen werden: Am realen Umfang des Wortschatzes, an der
Existenz eines Phonemsystems und dessen lautlicher Realisierung, an der
Existenz und Beschaffenheit des grammatischen Systems ändert es nichts, wenn
wir den Wortschatz, die Aussprache, den Formenbestand und die grammatischen
Regeln nur bruchstückhaft kennen.
Damit komme ich zu der abschließenden Frage, die für jeden Bereich gesondert beantwortet werden muß: Wie genau kennt man zur Zeit den Wortschatz, das Phonemsystem, mitsamt der Aussprache und das grammatische System des Urindogermanischen, das uns ja nicht einmal durch bruchstückhafte Überlieferung, sondern allein auf dem Wege der vergleichenden Rekonstruktion zugänglich ist?
Wie bereits angedeutet, hat sich der urindogermanische Wortschatz in großem Umfang erschließen lassen. Die Rekonstruktion des Wortschatzes führt vor allem dann zu überzeugenden Ergebnissen, wenn die rekonstruierten Wörter etymologisch und morphologisch durchsichtig sind. Der Terminus technicus *kwékwlos "Rad" (s.o.) gehört z.B. zu der Verbalwurzel uridg. *kwel "sich herumdrehen"; durch die reduplizierte Bildung wird die ständige Wiederkehr einer gleichartigen Umdrehung zum Ausdruck gebracht, die wir im Deutschen mit dem durativen Verbrum sich drehen bezeichnen. - Das Abstraktum uridg. *léos "Ruhm" ist von der Verbalwurzel *lé"hören" abgeleitet, bedeutet also ursprünglich "was man von jemandem hört". Die an und für sich wertneutrale Ausgangsbedeutung war jedoch schon im Urindogermanischen auf die lobende Nachrede festgelegt; zur Hervorhebung setzte man positive Attribute wie "gut", "hoch", "groß", "unvergänglich" usw. hinzu. Zweigliedrige Syntagmen mit *léos gehören zu den am sichersten erschlossenen Elementen der "indogermanischen Dichtersprache".
Etymologische Durchsichtigkeit ist für die Rekonstruktion aber nicht nur von Vorteil. Wenn die zum Vergleich herangezogenen Wörter jeweils schon auf einzelsprachlicher Ebene durchsichtig sind, weil sie als Ableitungen geläufigen Typs neben einem ebenfalls geläufigen Grundverb stehen, kann es sich um unabhängige Neubildungen der Einzelsprachen handeln. In solchen Fällen hilft auch die "Drei-Zeugen-Maxime" nicht weiter. Als sicher rekonstruiert können in erster Linie etymologisch undurchsichtige, nicht weiter analysierbare Elemente des Kernwortschatzes gelten, darunter die primären Verben, Zahlwörter, Körperteilbezeichnungen und Verwandtschaftsnamen; in zweiter Linie dann auch etymologisch durchsichtige Ableitungen wie *kwékwlos "Rad' und *léos "Ruhm", die nach dem übereinstimmenden Zeugnis von mindestens zwei Einzelsprachen eine terminologisch festgelegte oder in anderer Weise eng umgrenzte Wortbedeutung besaßen. Der urindogermanische Wortschatz, den wir einigermaßen sicher kennen, ist also relativ klein - sehr viel kleiner jedenfalls als der Wortschatz des großzügig angelegten "Pokorny".
Mit der Rekonstruktion von Wörtern beginnt das sprachvergleichende Schlußverfahren, an dessen Ende der Ansatz urindogermanischer Phoneme steht. Wie die einzelsprachlichen Vergleichswörter, so bestehen auch die vergleichend rekonstruierten Wörter aus Silben; im ersten Arbeitsgang werden daher nur Laute mit silbischer oder unsilbischer Geltung erfaßt. Ob diese Laute jeweils zugleich Phoneme sind, kann erst im zweiten Anlauf durch die Konfrontation aussagekräftiger Lautfolgen festgestellt werden.
Anfang dieses Jahrhunderts führte die Entdeckung der sog. Laryngale zum Ansatz dreier zusätzlicher Konsonantenphoneme, vermutlich tektaler Reibelaute: *h1 (ich-Laut?), *h2 (ach-Laut) und *h3 (stimmhafter Reibelaut wie in mittel- und niederdt. Wagen mit zusätzlicher Lippenrundung?). Seitdem ist das urindogermanische Phonemsystem wohl vollständig erschlossen; auch die lautliche Realisierung dürfte im großen und ganzen bekannt sein. Im großen und ganzen, das heißt: Man darf natürlich nicht erwarten, die phonetischen Merkmale rekonstruierter Laute mit aller Exaktheit bestimmen zu können, womöglich um einiges exakter als etwa für das klassische Latein. Und die Aussprache der suffixbetonten Kollektivbildung *kwekwláh2 "Satz Räder" (s.o.), in der nach regulär schwundstufigen Mustern wie *dháh2 "Worte" gegenüber *érdho-m "Wort" der Reduplikationsvokal synkopiert ist, läßt sich aus verständlichen Gründen nicht genauer angeben als die Aussprache von frz. petit.
Schon von jeher war die vergleichende Rekonstruktion der Laute und Lautverbindungen, mit den Worten Jürgen Untermanns, "zu einem hohen Anteil von typologischen Kenntnissen gesteuert - auch schon in einer Zeit, in der die Typologie noch gar nicht erfunden war". Dem Versuch von Gamkrelidze und Ivanov, das urindogermanische Verschlußlautsystem im Lichte der Kaukasussprachen zu reformieren, kann die Indogermanistik daher mit einiger Gelassenheit begegnen.
Die Rekonstruktion des Wortschatzes und des Phonemsystems bzw. Lautinventars darf also in den Grenzen, in denen sie überhaupt möglich ist, als bemerkenswert sicher gelten. Anders verhält es sich mit der Rekonstruktion des grammatischen Kategoriensystems, wenn man die in jüngster Zeit sehr heftige Diskussion zum Maßstab nehmen will.
Den methodischen Grundsatz, daß Aussagen über die urindogermanische Nominal- und Verbalflexion nur anhand einer Rekonstruktion des nominalen und verbalen Kategoriensystems gemacht werden können, hat Karl Hoffmann während seiner Erlanger Lehrtätigkeit mit Nachdruck vertreten; für seine Schüler ist es daher nur natürlich, in dieser Richtung weiterzuarbeiten. In dem vor zwanzig Jahren publizierten Vortrag "Das Kategoriensystem des indogermanischen Verbums" gab Hoffmann selbst die zusammenfassende Darstellung einer Systemrekonstruktion. Für Erich Neu und Wolfgang Meid war dies der Anlaß, Gegenpositionen zu begründen und in der Folgezeit auch weiter zu verteidigen. Die Wogen dieser Auseinandersetzung schlagen schon weniger hoch als vor einigen Jahren; doch ist es immer noch schwer, sine ira et studio über die Rekonstruktion grammatischer Kategorien zu sprechen. Ich möchte es dennoch versuchen.
Da es hier nicht um den Kategorienbestand selbst, sondern um die Treffsicherheit des Rekonstruktionsverfahrens geht, will ich von der Frage ausgehen: in welchem Umfang und aus welchen Gründen sind wir überhaupt in der Lage, Kategorien des urindogermanischen Nominal- und Verbalsystems zu rekonstruieren?
Offensichtlich können wir das deshalb, weil mit einer nominalen oder verbalen Flexionsform, die wir auf dem Wege der vergleichenden Rekonstruktion für das Urindogermanische ansetzen, immer auch die entsprechende Stelle im grammatischen Kategoriensystem rekonstruiert wird. Die Form *kwékwlos ist grammatisch als Nom. Sg. Mask. zu bestimmen, belegt also nicht nur ein Element des grundsprachlichen Wortschatzes und Wortformeninventars, sondern damit zugleich auch eine syntaktisch definierte Kategorie des urindogermanischen Nominalsystems. Vergleichbare Aussagekraft besitzen Formen des Indikativs Präsens wie uridg. *h1ésti und *h1sénti. Auch irreguläre Flexionsformen erhalten auf diese Weise ihren Platz an der entsprechenden Systemstelle: Mit den Formen *gwṓm und *dḗm bzw. *diḗm rekonstruieren wir den Akkusativ Singular im Paradigma der Diphthongstämme uridg. *gwó- "Rind" und *d(i)é- "Taghimmel" (vgl. einerseits ved. gm : gáv-, gr. βῶν : βό(Ϝ)-, umbr. bum < *bōm : lat. bov-, ahd. kuo und andererseits ved. dym : dyáv-, gr. Ζῆν : Vok. Ζεῦ, lat. diem < *diēm : Iov-).
In den genannten Fällen handelt es sich um grammatische Kategorien, die allen indogermanischen Einzelsprachen gemeinsam sind. Das ist allerdings nicht immer der Fall; eben darin liegt das Problem.
Das von Hoffmann aufgestellte Kategoriensystem des urindogermanischen Verbums ist dem Umfang nach ein Maximalsystem: aufgenommen sind alle Kategorien, die sich nicht als einzelsprachliche Neuerungen erklären lassen. Damit ist das gleiche Prinzip angewandt, das der - im ganzen unumstrittenen - Rekonstruktion des nominalen Kategoriensystems zugrundeliegt.
Die Rekonstruktion eines Maximalsystems hat nun zwangsläufig zur Folge, daß das rekonstruierte Urindogermanische in diesem Bereich der Grammatik bestimmten Einzelsprachen ähnelt - nämlich denjenigen Einzelsprachen, die gleichzeitig besonders kategorienreich und besonders arm an einzelsprachlichen Neuerungen sind. Im Bereich des Verbalsystems trifft dies in erster Linie auf das Vedische und auf das Griechische zu. Man hat das Hoffmannsche Verbalsystem daher auch als "gräko-arisches System" bezeichnet. - Die Vorschläge von Neu und Meid laufen demgegenüber auf eine Reduktion des verbalen Kategorienbestands hinaus, wodurch sich eine Annäherung an Sprachen mit kategorienärmerem Verbalsystem, vor allem an das Hethitische ergibt.
Eine Vermittlung zwischen beiden Auffassungen sucht man auf die Weise zu erreichen, daß ein verhältnismäßig kategorienarmes Verbalsystem, wie es im Hethitischen vorliegt, dem hochentwickelten "gräko-arischen" System historisch vorangestellt wird. Dieses diachronische Modell des Urindogermanischen hat zur Folge, daß die Grundsprache als zeitliche Abfolge von mindestens zwei Sprachschichten erscheint.
Für die Rekonstruktion des grammatischen Systems ist das von erheblicher Bedeutung. Denn ein Sprachsystem, das diesen Namen verdient, läßt sich bekanntlich immer nur für eine einzelne synchrone Sprachschicht aufstellen.
Wer heute eine Rekonstruktion des urindogermanischen Kategoriensystems wagt, muß sich deshalb von vornherein fragen, auf welche synchrone Sprachschicht er mit seiner Systemrekonstruktion abzielen will. Bis jetzt ist es noch üblich, diese Sprachschicht unmittelbar vor dem Zeitpunkt anzusetzen, zu dem die erste Gruppe von Sprechern, die einen überlieferten indogermanischen Sprachzweig begründete - vermutlich das Anatolische - die urindogermanische Sprechergemeinschaft verließ. Wenn unter diesen Bedingungen eine grammatische Kategorie rekonstruiert werden soll, werden zwei Zusatzüberlegungen notwendig. Erstens sollte nachgewiesen werden, daß die betreffende Kategorie bereits vor der Abspaltung des Anatolischen existiert und danach keine wesentlichen Veränderungen mehr erfahren hat. Diesen Kriterien genügt z.B. das Kollektiv auf *-h2-, dessen endungsloser Nom./Akk. auch als Nom./Akk. Plural ins Paradigma der Neutra eingegliedert wurde; hier waren offensichtlich schon vor dem Ausscheiden der ersten erhaltenen Einzelsprache vollendete Tatsachen geschaffen. - Wenn der Nachweis mit Hilfe des Anatolischen nicht möglich ist, bleibt noch ein zweites zu bedenken: Bei der Rekonstruktion einer "gräko-arischen" Kategorie sollte erklärt werden, wie diese Kategorie in der Sprachentwicklung zustande kam; geht das Rekonstrukt nicht auf die gemeinsame Grundlage aller indogermanischen Sprachzweige zurück, so ist bereits Anlaß gegeben, mutatis mutandis den 5., diachronischen Argumentationsschritt anzuwenden (s.o.). Ein älteres Sprachsystem, das einem jüngeren System derselben Sprache historisch vorausliegt, muß an irgendeiner Stelle schon Vor- oder Frühstufen des jüngeren Systems enthalten haben. Gesetzt den Fall, vor Abspaltung des Anatolischen hätten innerhalb des Verbalsystems noch keine Augmentformen existiert - ein Zeitadverb *é, das die Vergangenheit bezeichnete und in dieser Funktion vor das finite Verbum trat, müßte es in jedem Fall gegeben haben. Zweifelhaft erscheint also nur, ob das Zeitadverb und die darauffolgende Verbalform schon vor oder erst nach dem Ausscheiden des anatolischen Sprachzweigs univerbiert worden sind.
Mit diesen Andeutungen zur Methode will ich schließen; denn die Sachlage erlaubt, ja erfordert geradezu einen offenen Schluß. Die Rekonstruktion der urindogermanischen Wortbildungsregeln und der urindogermanischen Syntax ist, stärker noch als die Rekonstruktion des grammatischen Kategoriensystems, eine Aufgabe für die Zukunft; in einigen Jahren wird sich dazu hoffentlich mehr sagen lassen als heute. Wie auch immer man die Situation des Faches Indogermanistik beurteilt, in einem Punkt besteht kein Anlaß zur Sorge: das Vergleichsmaterial und die Argumentationsmöglichkeiten, die sich aus dem Verfahren der vergleichenden Rekonstruktion ergeben, sind noch keineswegs ausgeschöpft. Arbeit gibt es genug.
Marburg |
Eva Tichy |
Weiterführende Literatur
Allgemeines
J. Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, 2 Bände, München 1959, 1969.
R. Schmitt, Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit, Wiesbaden 1967.
O. Szemerényi, Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft, 3. Aufl. Darmstadt 1989.
Rekonstruktion
H. Eichner, Sprachwandel und Rekonstruktion: Diskussionsbeitrag, in: Akten der 13. Österreichischen Linguistentagung, hrsg. v. Chr. Zinko, Graz 1988, 10-40.
K. Hoffmann, Das Kategoriensystem des indogermanischen Verbums, in: Münchener Studien zur Sprachwissenschaft 28, 1970, 19-41; Aufsätze zur Indoiranistik II, Wiesbaden 1976, 523-540.
W. Meid, Probleme der räumlichen und zeitlichen Gliederung des Indogermanischen, in: Flexion und Wortbildung, hrsg. v. H. Rix, Wiesbaden 1975, 204-219.
ders., Der Archaismus der Hethitischen, in: Hethitisch und Indogermanisch, hrsg. v. E. Neu und W. Meid, Innsbruck 1979, 159-176.
E. Neu, Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, in: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, hrsg. v. H. L. Arnold und V. Sinemus, Band 2: Sprachwissenschaft, München 1974, 314-328.
ders., Zur Rekonstruktion des indogermanischen Verbalsystems, in: Studies in Greek, Italic, and Indo-European Linguistics Offered to L. R. Palmer, ed. A. Morpurgo Davies and W. Meid, Innsbruck 1976, 239-254.
ders., Konstruieren und Rekonstruieren, in: Incontri Linguistici 9, 1984 [86], 101-113.
ders., Das frühindogermanische Diathesensystem. Funktion und Geschichte, in: Grammatische Kategorien, Funktion und Geschichte, hrsg. v. B. Schlerath, Wiesbaden 1985, 275-295.
B. Schlerath, Ist ein Raum/Zeit-Modell für eine rekonstruierte Sprache möglich?, in: ZVS 95, 1982, 175-202.
ders., Sprachvergleich und Rekonstruktion: Methoden und Möglichkeiten, in: Incontri Linguistici 8, 1982/83, 53-69.
ders., Probleme der Rekonstruktion: Schlußwort und Ausblick, in: Incontri Linguistici 10, 1985 [87], 11-18.
K. Strunk, Probleme der Sprachrekonstruktion und das Fehlen zweier Modi im Hethitischen, in: Incontri Linguistici 9, 1984 [86], 135-152.
O. Szemerényi, Rekonstruktion in der indogermanischen Flexion. Prinzipien und Probleme, in: Flexion und Wortbildung, hrsg. v. H. Rix, Wiesbaden 1975, 325-345.
J. Untermann, Ursprache und historische Realität. Der Beitrag der Indogermanistik zu Fragen der Ethnogenese, in: Studien zur Ethnogenese, Opladen 1985, 133-164.
cvi-Bildungen und ī-Genetiv
A. Bloch, Kann der lateinisch-keltische Genetiv auf -ī der ŏ-Stämme gleichen Ursprungs sein wie die altindische Präverbialform auf ´?, in: ZVS 76, 1960, 182-242.
J. Schindler, Zur Herkunft der altindischen cvi-Bildungen, in: Lautgeschichte und Etymologie, hrsg. v. M. Mayrhofer, M. Peters und O. E. Pfeiffer, Wiesbaden 1980, 386-393.
B. Schlerath, Nochmals zu den cvi-Bildungen, in: Studia Indogermanica et Slavica, Festgabe für W. Thomas, München 1988, 37-47.
J. Wackernagel, Genetiv und Adjektiv, Teil I, in: Kleine Schriften II, 2. Aufl. Göttingen 1969, 1346-1358.
* Antrittsvorlesung, gehalten am 11.1.1990 an der
Philipps-Universität Marburg. Trotz aller Bedenken ist die Vortragsform
beibehalten; ein Aufsatz zum gleichen Gegenstand hätte vom Titel an neu geschrieben
werden müssen.
Würzburger Jahrbücher für die
Altertumswissenschaft N.F. 16, 1990, 5-18.
[i] Das Kollektivum diente
wohl als Grundlage einer Possessivableitung *kwekwh2ó- "der einen Satz Räder hat", die in
toch. A kukäl, B kokale "Wagen" vorliegt. Zum Ableitungstyp vgl. ved. rátha- "Wagen" < *róth2-o- gegenüber lat. rota < *rótah2, dt. Rad < *róto- m.
[ii] Da Kollektiva in Abstrakta
übergehen können, ist für die cvi-Konstruktion
auch noch mit einer übertragenen Bedeutung "in den Zustand der/des ...
[Nominalabstraktum im Gen.] kommen bzw. versetzen" zu rechnen. Die
Ausgangsbedeutung von śyet k
wäre demnach "in den Zustand der Helligkeit (d.h. der inneren Ruhe) versetzen".
[iii] Es verbleibt die
Möglichkeit, ved. mithun
(bzw. seine urindoiranische Vorform) als Nom./Akk. Dual Neutrum zum Stamm mithun-
anzusehen und alle anderen cvi-Bildungen
auf diesen Ausgangspunkt zurückzuführen. Damit entfiele jeder externe
Vergleich.
[iv] Ob die tocharische
Genetivendung AB -i mit dem
lateinisch-keltischen ī-Genetiv
zu vergleichen ist (so G. Klingenschmitt, in: Flexion und Wortbildung, hrsg. v.
H. Rix, Wiesbaden 1975, 154 Anm. 10) oder vielmehr auf *-es bzw. (Dat.) *-e
zurückgeht, läßt sich aufgrund der Lautverhältnisse nicht entscheiden.