In meinem Beitrag will ich zwei Aspekte ansprechen:
· Die Erforschung der Vielfalt der Sprachen ist ein unverzichtbarer Teil
unserer Kultur, und die Indogermanistik hat hier ihren Platz.
· Wissenschaft und Forschung können nicht allein an ihrem unmittelbaren technischen
und wirtschaftlichen Nutzen gemessen werden.
Die Erforschung der Vielfalt der Sprachen ist ein unverzichtbarer Teil unserer
Kultur, und die Indogermanistik hat hier ihren Platz.
Ausstellungen über das Leben der Dinosaurier haben hohe Besucherzahlen, Filme
über die Tierwelt Australiens sind im Abendprogramm des Fernsehens zu finden und
die (berechtigte) Sorge um die Erhaltung der Artenvielfalt im Tier- und Pflanzenreich
bewegt viele Menschen. Es ist höchste Zeit, dass die Öffentlichkeit vom drohenden
Verlust eines einmaligen kulturellen Erbes der Menschheit erfährt und entsprechend
engagiert reagiert, nämlich der Tatsache, dass von den rund 6000 Sprachen, die es
auf der Welt im 20. Jahrhundert gegeben hat, über drei Viertel vom Aussterben bedroht
sind. Das Internationale Jahr der bedrohten Sprachen vor einigen Jahren hat in Europa
kaum einen Niederschlag in den Medien gefunden. Die traurige Tatsache, dass die
Zeit des Kolonialismus mit dem Genozid an zahlreichen Völkern verbunden war, lässt
sich nicht mehr verdrängen. Viele Sprachen sind damit für immer erloschen.
Es gibt eine kleine Hoffnung. Die Menschen beginnen sich für die Vielfalt zu interessieren.
Der durch Konzentration und Globalisierung drohende Einheitsbrei im Warenangebot
und im Lebensstil löst auch Gegenreaktionen aus. In Konzert und Theater werden auch
wieder ältere und selten gespielte Werke geboten. Ausstellungen über fremde oder
vergangene Kulturen sind gut besucht. Warum soll nicht auch das Interesse an fremden
Sprachen oder an der Struktur der eigenen Sprache erwachen? Immerhin, das marginale
Thema der Rechtschreibreform hat viele Diskussionen ausgelöst. Durch die Migrationen
sind in Europa neue multikulturelle Gesellschaften im Entstehen, die auch im Erscheinungsbild
der Städte die Mehrsprachigkeit des Menschen signalisieren.
Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, zu deren ältesten Zweigen die Indogermanistik
zählt, steht zur Erforschung und Beschreibung der modernen Sprachen etwa wie die
Paläontologie zur Biologie der heutigen Lebensformen. Die geschichtliche Entwicklung
kann zum Verständnis der heutigen Sprachen beitragen. Weiters gibt es zahlreiche
Interferenzen mit der Kulturgeschichte der Menschen auf verschiedenen Ebenen. Damit
sollte der Indogermanistik, die für die Erforschung anderer Sprachfamilien paradigmatisch
wichtige Vorleistungen erbracht hat, auch weiterhin eine bedeutsame Stellung eingeräumt
werden. Daraus ist pragmatisch abzuleiten, dass die Sprachwissenschaften und Philologien
heute stärker im Verbund arbeiten sollten. Die Erforschung der Sprachen in ihrer
Vielfalt wird leichter gelingen, wenn die Trennung in große Philologien und kleine
Fächer ("Ach ja, eine Finnougristik gibt es auch noch!") durch neue Formen der Kooperation
überwunden wird.
Wissenschaft und Forschung können nicht allein an ihrem unmittelbaren technischen
und wirtschaftlichen Nutzen gemessen werden.
Es ist derzeit schwierig, Politiker und andere gesellschaftliche Kräfte vom
Wert und Nutzen einer Forschung zu überzeugen, die ihre Motivation vorrangig aus
Interesse und Freude schöpft, wo die Faszination des Gegenstandes die Kreativität
beflügelt und der praktische Nutzen oft erst Jahre später erkennbar ist. Es gibt
zahlreiche Beispiele dieser Art auch aus der Mathematik. Die Theorie der endlichen
Körper war durch viele Jahrzehnte ein fast esoterisch anmutender Zweig der höheren
Algebra. Heute verwendet jeder CD-Player Kodierungen, zu deren theoretischen Grundlagen
auch die Theorie der endlichen Körper zählt. Die von Johann Radon entwickelte Theorie
von Transformationen von Funktionen mehrerer Variabler ist eine Grundlage der Computertomographie
geworden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, aber es ist letztlich nicht entscheidend,
ob ein Stück Wissenschaft Jahrzehnte später doch anwendbar geworden ist, sondern
entscheidend ist es zu begreifen, dass die Wissenschaften ein komplexes System bilden,
zu deren Auftrag die Humanisierung der Lebenswelt gehört, wobei kulturelle Bedürfnisse
einen unverzichtbaren Wert darstellen. Die Parole "Heute Forschen, morgen Patentieren,
übermorgen Cash" ist eine unheilvolle Verzerrung der Wissenschaft.