Empfehlung der gemeinsamen Kommission Sprachwissenschaft der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbands


I.


Nach den grundlegenden Entdeckungen von de Saussure und anderen in den letzten Jahrzehnten entwickelten sich sowohl die allgemeine als auch die lateinische (bzw. griechische) Sprachwissenschaft in unvorhersehbarer Weise und brachten eine Fülle von Kenntnissen hervor, die für das Studium der Alten Sprachen an Schule und Universität unerläßlich sind. Zur Vermittlung dieser Kenntnisse wurden an den Universitäten einiger Länder Europas wie Italien und Frankreich (aber auch den Beneluxländern) sprachwissenschaftlich-linguistische Professuren bzw. Abteilungen eingerichtet, die fest im Studienbetrieb verankert sind (glottologia latina, glottologia greca, linguistique latine, linguistique grecque). In der Bundesrepublik Deutschland dagegen wurden zwar in den Neuphilologien Professuren für Sprachwissenschaft (Germanistik, Anglistik, Romanistik, Slawistik) beziehungsweise eigene Abteilungen und Institute für Germanistische (Anglistische, Romanistische, Slawistische) Sprachwissenschaft geschaffen, dieser Schritt in der Klassischen Philologie aber nicht nachvollzogen. Die Vermittlung sprachwissenschaftlicher Kenntnisse unterblieb daher vielerorts entweder ganz oder war dem ortsansässigen Indogermanisten überlassen, ohne daß man bedachte, daß die Indogermanistik eine andere wissenschaftliche Aufgabe wahrzunehmen hat als die Klassische Philologie.


Da das Studium der Alten Sprachen in Deutschland keine sprachwissenschaftliche Teildisziplin aufzuweisen hat, ist die Förderung des hier spezielle interessierten wissenschaftlichen Nachwuchses besonders erschwert. Eine sprachwissenschaftliche Magisterarbeit oder Promotion auf dem Gebiet der Alten Sprachen kann nur unter großen Schwierigkeiten betreut werden, weil meist kein kompetenter philologischer Fachvertreter zur Verfügung steht und weil die Fakultäten eher dazu neigen, derartige Arbeiten in den Zuständigkeitsbereich des Indogermanisten zu verweisen. Sehr oft werden solche Arbeiten aber schon im Ansatz mit dem Hinweis auf spätere schlechte Berufschancen für die wissenschaftliche Laufbahn abgelehnt.


In der schulischen Praxis sind sprachwissenschaftliche Kenntnisse als Voraussetzung von Grammatiklehrbüchern längst nicht nur unverzichtbar, sondern werden inzwischen auch in den Lehrplänen vieler Bundesländer (z.B. Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Thüringen) gefordert. Klassische Philologen mit den Fächern Latein und Griechisch erweisen sich in der Referendarausbildung gegenüber ihren Mitreferendaren, die eine moderne Fremdsprache als zweites Fach haben, zunehmend als unterlegen. Vielfach fehlen den Klassischen Philologen einfach Grundkenntnisse in der sprachwissenschaftlichen Terminologie, so daß sie von vorneherein von der Diskussion ausgeschlossen sind und im Gespräch mit Fachkollegen nicht einmal die Vorzüge der traditionellen Grammatik hinreichend zur Geltung bringen können. Die Bereiche, in denen diese Defizite vor allem zu bestehen scheinen, seien daher exemplarisch für das Lateinische genannt.


II.


Phonologie / Morphologie / lexikalische Semantik / Syntax / Textlinguistik / Varietätenlinguistik / Sprach- und Stilgeschichte


Phonologie: Die Lautlehre einer antiken Sprache unterscheidet sich in Grund und Zweck von einer modernen Sprache: im Grunde, insofern sie nicht unmittelbar auf Befunden des Hörens, sondern nur auf solchen des Sehens -- nämlich geschriebener Texte, die das gesprochene Wort ja schon in einiger Brechung bieten --, beruht; im Zwecke, indem sie nicht auch der Erleichterung des Verständnisses mit native speakers, sondern nur der Erkenntnis -- zunächst ihrer selbst, dann und vor allem auch der auf ihr beruhenden Prosodie, Rhythmik und Metrik, d.h. der Einsicht in den Bau von Kunstprosa und Dichtung, -- dient.


Bei der synchronen Behandlung der Lautlehre ist kontrastiv zum Deutschen vorzugehen, zeigt sich doch beim Erlernen alter Sprachen die Tendenz, muttersprachliche Aussprachegewohnheiten unreflektiert und wie selbstverständlich auf die Fremdsprache zu übertragen, besonders deutlich, da hier das Korrektiv der Begegnung mit einem native speaker von vornherein ausfällt. Die Dominanz der Mündlichkeit in der antiken Kultur macht es erforderlich, die rhythmischen Elemente der Kunstprosa (Kola, Kommata, Klauseln) vor dem Hintergrund der allgemeinen Phonologie der alten Sprachen zu behandeln.


Was die `richtige', d.h. allen aus den Texten zu gewinnenden Befunden entsprechende Aussprache lateinischer Wörter überhaupt betrifft, so ist auf die Vokalquantitäten, die Silbenquantitäten und Wortbetonung gerade im Unterschied zum Deutschen zu achten. In der Öffentlichkeit wird am meisten die Frage diskutiert, ob die sog. pronuntiatio restituta (s stets [k], t stets [t], ae und oe diphthongisch) anzuwenden sei oder nicht. Die grundsätzlich einheitliche Weiterentwicklung dieser Laute im Mittellatein und in fast allen romanischen Sprachen und die auf Seiten der klassisch-philologischen Literaturwissenschaft immer mehr in den Vordergrund tretende Beschäftigung mit Rezeptionsgeschichte und Neulatein erfordern eine differenzierte Diskussion dieses Problems.


Die diachrone Behandlung der Lautlehre wird sich in den Bahnen der traditionellen `historischen Lautlehre' bewegen. Ihr dürfte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine besondere didaktische Bedeutung im Hochschulunterricht zuwachsen: Je geringer die Sprachkenntnisse sein werden, die die Studienanfänger mitbringen, desto wichtiger wird die konzise und kompakte Vermittlung der Wortbildungs-, v.a. aber der traditionellen Formenlehre im Rahmen des Hochschulstudiums sein; diese Vermittlung ist aber ohne den Einsatz der historischen Lautlehre mit ihren Gesetzen und/oder Regeln des Lautwandels im innergriechischen bzw. -lateinischen Bereich nicht zu leisten. Wegen des weitaus reicheren Formenbestandes und der Vielfalt der -- auch literarischen -- Dialekte gilt dies für Griechisch in höherem Maße als für Latein (dazu Sommer/Pfister). Abschließend sei darauf verwiesen, daß in der Linguistik aus grundsätzlichen systematischen Gründen auch die Unterscheidung zwischen Phon (z.B. [a]) als kleinster akustisch unterscheidbarer und Phonem (z.B. /a/) als kleinster semantisch unterscheidbarer Einheit des Prechaktes und entsprechend die zwischen Phonetik als Lehre von den Phonen und Phonematik als Lehre von den Phonemen üblich geworden ist.


Morphologie: Aus dem Sprachunterricht sind Grundbegriffe der Wortbildung, der Wortarten- und Flexionslehre vertraut (z.B. Rubenbauer-Hofmann-Heine 17 ff.) und Grundkenntnisse der historischen Flexionslehre vorhanden (z.B. Safarewicz). Es empfiehlt sich, auch Grundkenntnisse neuerer Ansätze in der Morphologie zu erwerben, weil damit zu rechnen ist, daß Studenten und Studienreferendare der neuen Philologien bereits mit den dort gebräuchlichen Kategorien wie dem Morphembegriff arbeiten (dazu z.B. Bünting 94 ff.). Wie in der Phonologie sind auch in der Morphologie grundlegende Kenntnisse der Laryngaltheorie zu vermitteln.


Lexikalische Semantik: Die lexikalische Semantik und Etymologie vermittelt nicht nur, welche Struktur ein Wort bzw. ein Wortgefüge synchron aufweist und wie sich das Wortfeld diachron entwickelt, sondern auch, was sich an Kultur- und Geistesgeschichte (einschließlich der Religionsgeschichte) daraus erschließen läßt: z.B. die Erklärung des Wortes lateinisch deus, griechisch theos sowohl von der Bildung als auch von seinem Inhalt her (z.B. Schmidt), so daß sich hier nicht nur förderliche kulturwissenschaftliche Einblicke gewinnen lassen, sondern auch die fundamentale sprachphilosophische Erkenntnis, daß Sprache Weltsicht und Weltdeutung bestimmt.


Syntax: Gründliche Kenntnis der traditionellen Syntax, der Lehre vom einfachen und zusammengesetzten Satz, die durch den täglichen Umgang z.B. Hofmann-Szantyr, Kühner-Stegmann, Rubenbauer-Hofmann-Heine, Menge erworben werden, sind für einen Studierenden der Alten Sprachen nach wie vor unerläßlich und bleiben auch bei der weiterführenden Beschäftigung mit modernen Syntaxtheorien unentbehrliche Grundlage. Darüber hinaus sind aber Kenntnisse in modernen Satzbeschreibungsmodellen schon allein deshalb erforderlich, weil insbesondere dependenzgrammatische Ansätze in fast alle Lehrpläne des Fachs Latein und in einige Lehrbücher zur lateinischen Grammatik (z.B. Lindauer-Vester 82 ff.; Fink-Maier; Cursus Continuus) aufgenommen worden sind. Von den modernen Syntaxtheorien sollten daher vor allem Kenntnisse in der Valenz- und Dependenzgrammatik erworben werden (Verbvalenzen, Ergänzungen, freie Angaben, Satzglieder und deren Füllungsarten). Eine theoretische Einführung in diese Modelle auch der funktionalen und -- weniger -- der generativen Grammatik (dazu z.B. Bünting 1996) und praktische Übungen zu ihrer Anwendung im Lateinischen können mit der nötigen Vorsicht und Zurückhaltung auf der Grundlage z.B. von Pinkster durchgeführt werden (dazu Lehmann, Kratylos 31, 1986, 139-142; Heine, GGA 242, 1990, 1-14; Ax, Gnomon 62, 1992, 113-117).


Textlinguistik: Auch textlinguistische Beschreibungsverfahren sind bereits feste Bestandteile von Lehrplänen und Grammatiken des Lateinischen (z.B. Lindauer-Vester 148 ff.), weil sie als besonders hilfreich für die Texterschließung empfunden und deshalb zur Anwendung im Lateinunterricht empfohlen werden. Textlinguistische Beobachtungsfelder sind vor allem textsyntaktische Merkmale wie Tempus-, Modus- und Diathesengestaltung, Personenkennzeichnung und Konnektorengebrauch, aus deren Verwendung sich die jeweilige Textsorte (narrativ, beschreibend, erörternd) bestimmt, aber auch textsemantische Erscheinungen, welche durch semantische Kohärenz die thematische Einheit des Textes erzeugen. Solche Kohärenzmerkmale sind Wortwiederholungen und -umschreibungen, Wiederaufnahme früherer Bezugswörter, Sätze oder Textpassagen durch Pronomina, Adverbien und dergleichen (die sog. Proformen), den Text bestimmende Wortfelder, Koreferenz (das heißt: Bezugnahme verschiedener sprachlicher Elemente des Textes auf dieselbe Person oder Sache) sowie die Thema-Rhema-Abfolge (d.h. die sukzessive Abfolge bekannter und neuer Informationen). Diese für die spätere Textarbeit in der Schule höchst nützlichen textlinguistischen Grundkenntnisse und Analyseverfahren sollen schon im Grundstudium auf der Grundlage aktueller textlinguistischer Einführungen erworben und durch praktische Übungen an lateinischen Texten verfestigt werden (z.B. Brinker).


Varietäten- und Soziolinguistik: Das Phänomen der Jugendsprache, geschlechts- und sozialspezifische Varietäten sprachlicher Äußerungen gab es in der Antike genauso, wie sie in den heutigen gelehrten Sprachen existieren, so daß sich in den Varietäten- und Soziolinguistik mit Dokumentation des diachronen, diastratischen, diatopischen und diaphasischen Aspekts sprachlicher Äußerungen nicht nur wertvolle Einblicke in die Alltagskultur gewinnen lassen, sondern auch der fruchtbare Dialog mit den neuphilologischen Disziplinen gesucht werden kann.


Sprach- und Stilgeschichte: Im Studium der klassischen Philologie empfiehlt es sich, nicht nur das geschriebene und normierte Latein, sondern auch das gesprochene Latein von der Frühzeit bis zum Ausgang der Antike in seiner Konsequenz für die heutigen romanischen Idiome zu behandeln. Auf diese Weise wird den Studierenden aus dem Vergleich der Klassiker mit den Inschriften von Pompeji, den jüngst im britannischen Vindolanda gefundenen Brieftäfelchen einfacher Soldaten, den lateinischen Briefen auf Papyri von Karanis in Ägypten oder den beschriebenen Ostraka von Bu Njem deutlich, daß Sprache als Ausdruck der Kultur im Sinne von Humboldt als Energeia, einer sich stets entwickelnden und fortschreitenden Form und Ausdruckskraft, nicht als ein abgeschlossenes, statisches Ergon zu verstehen ist, d.h. das Lateinische nicht als Korpussprache der Vergangenheit angehört, sondern in seinen Tochtersprachen fortexistiert. Auch sollte auf die sprachgeschichtliche Kontinuität, die sich im Mittel- und Neulatein manifestiert, verwiesen werden.


III.


Die gemeinsame Kommission Sprachwissenschaft der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbands empfiehlt dringend, dafür Sorge zu tragen, daß spätestens vom Wintersemester 2000/2001 an in allen Studienordnungen

-- eine Einführung in die Sprachwissenschaft für Klassische Philologen (2 Semesterwochenstunden obligatorisch)

fest verankert wird. Darüber hinaus sollten nach Überzeugung der Kommission sehr bald an allen Seminaren für Klassische Philologie (sofern noch nicht geschehen) auch folgende Veranstaltungen angeboten und in die Studienordnungen eingefügt werden:

-- eine Vorlesung zur Sprach- und Stilgeschichte (2 Semesterwochenstunden)

-- ein Proseminar oder Seminar zu einem fachspezifischen sprachwissenschaftlichen Thema (2 Semesterwochenstunden obligatorisch).



Copyright Jost Gippert Frankfurt a/M 2001. No parts of this document may be republished in any form without prior permission by the copyright holder.