Zur Methodendiskussion


In Jost Gipperts Diskussionsvorschlägen zur Frage "Was kann und muß getan werden, damit die Indogermanistik auch im 21. Jahrhundert noch als Fach besteht und indogermanistische Forschung weiterhin möglich bleibt?" ist ein Abschnitt zur "fachinterne Methodendiskussion" enthalten. Unter dem Stichwort "inhaltliche Neuorientierung" heißt es unter anderem: die Indogermanistik sollte "sich offensiv als Paradedisziplin der allgemein historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft re-etablieren, was voraussetzt, daß der theoretische Anspruch in Forschung und Lehre erhöht werden muß". Diesem Punkt gelten die folgenden Ausführungen. Sie können den indogermanistischen Untersuchungsgebieten Lautlehre, Morphologie, Semantik, Syntax zugeordnet werden.


1. Formale Semantik natürlicher Sprachen


Bedeutungsbeschreibungen der Indogermanistik sind zumeist vage und entsprechen nicht dem Standard der modernen Linguistik. In der Indogermanistik sollten daher Veranstaltungen über die formale Semantik natürlicher Sprachen abgehalten werden. Derartige Übungen dienen zum einen der Schulung des logischen Denkens, und allgemeinsprachliche Darstellungen, die sich der Formelsprache der Logik bedienen, werden verständlich; zum anderen können Bedeutungsansätze nach diesem Vokabular von anderen linguistischen Disziplinen aufgenommen und mit eigenen Ansätzen verglichen werden. Für die Einführung in die formale Semantik empfehle ich das Buch von Horst Lohnstein: Formale Semantik und natürliche Sprachen.


Es bietet eine Einführung in die Mengenlehre, in Relationen und Funktionen, Aussagen-, Prädikatenlogik, Typenlehre, Lambda-Abstraktion, um Beschreibungsmittel für die Struktur der Welt zur Verfügung zu stellen und um Beziehungen zwischen den Individuen und Dingen, die in der Welt auftreten, darstellen und beschreiben zu können. Dazu sind geringe mathematische Vorkenntnisse hilfreich, aber keineswegs notwendig, denn alle Begriffe werden anhand von Beispielen eingeführt und erörtert. Eine weitere Voraussetzung für die formale Beschreibung natürlicher Sprachen ist die klassische Aussagenlogik und die Struktur gültiger Argumente. Bereits an dieser sehr einfachen Logiksprache läßt sich die allgemeine Vorgehensweise der formalen Semantikforschung deutlich machen: Es werden zunächst elementare Einheiten angegeben, die das Vokabular der Sprache festlegen. Dann werden syntaktische Regeln formuliert, die die Kombinatorik dieser Einheiten zu komplexeren Asudrücken festlegen. Schließlich wird zu jeder snytaktischen Regel eine Interpretationsregel angegeben, die die Bedeutung des neu entstandenen komplexen Ausdrucks liefert. Da in der Aussagenlogik vollständige Aussagen die elementaren Einheiten sind, muß aber auch gezeigt werden, wie Aussagen selbst aus kleineren Einheiten aufgebaut sind. Dies führt zu der Struktur von Prädikaten und Argumenten. Ist man dann fähig, Ausdrücke der Prädikatenlogik relativ zu Modellen von der Welt zu interpretieren, ist man schon wieder ein ganzes Stück weiter. Als nächstes kommt dann die Typentheorie und das Lambda-Kalkül; diese Verfahren benötigt man, um Denotate als komplexe Funktionen auffassen zu können, wobei aber die kombinatorischen Prinzipien stark vereinfacht werden können. Die Anwendung all dieser Konzepte bietet nun für die Indogermanistik genug Möglichkeiten, neue Methoden auf ihre Untersuchungsgegenstände anzuwenden. Z.B. kann die Semantik von Nominalphrasen nun deswegen genauer beschrieben werden, weil das Phänomen der Quantifikation mit Hilfe von Funktionen darstellbar ist. Wichtig für die Forscher, die sich mit Aspekt und Tempus beschäftigen, ist der Zusammenhang zwischen dem grammatischen Tempus von Sätzen und der zeitabhängigen Veränderung unserer Welt, so daß auch vergangene und zukünftige Weltsituationen beschrieben werden können. Die Logiksprache muß dafür aber erweitert werden. Von Interesse für uns ist auch, wie sich Alternativen zu unserer aktuellen Welt in das logische System integrieren lassen. Schlagwörter sind hier die möglichen Welten, die Alternativen zu unserer tatsächlich existierenden Welt darstellen. Wer sich mit den Modi indogermanischer Sprachen beschäftigt, sollte hier beginnen. Schließlich verhilft die intensionale Logik, sie sie von Richard Montague 1974 formuliert worden ist, dazu, den Begriff Bedeutung präziser zu fassen. Da die semantische Kenntnis ein Teil des menschlichen Sprachsystems ist, ist die semantische Theorie eine unabdingbare Voraussetzung jeder Bedeutungsbeschreibung.


2. Optimalitätstheorie


Eine relativ neue, aber auf jeden Fall für die historische Betrachtung von Sprachen geeignete Sprachtheorie ist die Optimalitätstheorie.

Die vier zentralen Annahmen dieser Theorie sind:

a: Universalität:

Beschränkungen sind universell.

b. Verletzbarkeit

Beschränkungen können verletzt werden.

c. Geordnetheit

Beschränkungen sind geordnet

d. Wettbewerb

Die Grammatikalität eines sprachlichen Kandidaten K ist nicht allein aufgrund interner Eigenschaften von K ermittelbar; vielmehr entscheiden externe Faktoren über die Wohlgeformtheit von K.

Ein wichtiger Unterschied zwischen der Optimalitätstheorie und anderen Sprachtheorien ist, daß der Begriff der Grammatikalität nicht nur unter Bezug auf interne Eigenschaften eines Kandidaten definiert ist. Die Optiamlitätstheorie setzt vielmehr Grammatikalität mit Optimalität in der Kandidatenmenge gleich. So heißt es denn auch: Ein optimaler Kandidat aus der Kandidatenmenge ist grammatisch, alle nichtoptimalen Kandidaten sind ungrammatisch.

Übertragen gesprochen werden die sprachlichen Kandidaten einem Wettbewerb ausgesetzt, der in einem Teil der Grammatik stattfindet. Dieser Teil der Grammatik enthält bestimmte Beschränkungen. Darunter sind auch sogenannte Treuebeschränkungen an. Durch derartige Beschränkungen wird die Transparenz zwischen korrespondierenden Formen gewährleistet, was z.B. bei der Flexion von Substantiven und Fremdwörtern eine Rolle spielen kann. Die Kandidaten kommen nun aber nicht aus dem Nichts: Die verschiedenen konkurrierenden Struktuen müssen zunächst einmal erzeugt werden, bevor sie dem Wettbewerb ausgesetzt werden können. Die Erzeugung der Kandidaten leistet ein vorgelagerter Teil der Grammatik. Dazu kommt, daß nach der Optimalitätstheorie die Regelhierarchien nicht stabil sind, sondern variieren und sich im Lauf der Sprachgeschichte verändern können. Aus der Sicht der Optimalitätstheorie ist sprachliche Variation zu erwarten und erklärbar. Hier setzt nun die Sprachgeschichte ein: Wenn wir unter Sprachwandelgesichtspunkten Input und Output sprachlicher Daten vergleichen, können wir nach der Optimalitätstheorie vorgehen. Für die Bereiche Phonologie, Morphologie und Syntax ist die Optimalitätstheorie daher sehr geeignet. Die Notierungen nach dieser Theorie sind nicht besonders aufwendig, es lohnt sich, denn sie machen unsere Ergebnisse mit denen der modernen Linguistik vergleichbar. Es gibt übrigens eine Diskussion zur OT im Internet.

Lit.: Archangeli, Diana/Langendoen, Terence (eds.) (1997): Optimality Theory: An Overview. Oxford: Blackwell


3. Minimalistische Morphologie


Eine andere Theorie, die sich gut mit dem Datenmaterial der Indogermanistik verträgt, ist die minimalistische Morphologie. Diese Theorie ist eine Theorie über Flexionsmorphologie. Sie befaßt sich mit flektierten Wortformen und ihrer Rolle in der Syntax. Die Theorie heißt deswegen minimalistisch, weil sie sich auf nur wenige Prinzipien stützt und umfassenden Gebrauch von dem Phänomen der Unterspezifikation macht. Insbesondere wird der Synkretismus auf Unterspezifikation zurückgeführt. In binären Schritten wird nachvollzogen, wie jemand, der eine Sprache lernt, sich die Morphologie aneignet. Die Grundannahmen beruhen also auf den Prinzipien der Ökonomie und Erlernbarkeit:

1. Es gibt keine abstrakten Morpheme. Flexionsmorpheme tragen nach dieser Theorie eine phonologische und eine kategoriale Information.

2. Es herrscht das Prinzip der maximalen Unterspezifikation. Die gesamte phonologische und kategoriale Information eines Ausgangs oder einer Endung beruht auf minimalen Unterscheidungen von anderen Ausgängen und Endungen.

3. Das Flexionssystem setzt sich aus Stämmen und Affixen zusammen. Alle morphologischen Merkmale werden durch + und -Werte spezifiziert, wobei aber für den Aufbau eines Paradigmas nur Affixe mit +Werten relevant sind. Solche Werte sind z.B. für die Nominalflexion:

Nominativ: [] (= unterspezifiziert)

Akkusativ: [+ hr] (higher Roll bedeutet: Es gibt eine höhere Theta-Rolle, nämlich das Subjekt)

Dativ [+hr, + lr] (Es gibt eine höhere Theta-Rolle = Akkusativ; es gibt eine niedere Theta-Rolle = Genitiv)

Genitiv [+hr, + nominal]

Mit Hilfe solcher Kategorisierungen, die für Sprachen mit mehr Kasus erweitert werden müssen, läßt sich jedes Nominalparadigma in binären Schritten beschreiben. Die minimalistische Morphologie eignet sich aber auch für die Beschreibung von Verbalparadigmen. Es wird eine Hierarchie funktionaler Kategorien angenommen, die sich in der Flexionsmorphologie widerspiegelt; für das Verb ist dies nach der Joan Bybee die Reihenfolge: Modus > Tempus > Aspekt > Diathese und für das Substantiv: Kasus > Numerus > Genus. Nur Elemente für Kategorien, die in diesen Hierarchien benachbart sind, können fusionieren. Es werden sogenannte Inheritanz-Bäume, die nach binären Merkmalen aufgebaut sind, konstruiert unter der Annahme, daß jedesmal, wenn der Lernende auf eine komplexere Wortform stößt, er die Position aller schon identifizierten Affixe neu bewerten und so neu zuordnen muß. Grundsätzlich wird also die Flexionsmorphologie als ein generatives System betrachtet, das das implizite Wissen eines Sprechers um ein Paradigma nachbildet. Die Leitfrage ist stets: Mit welcher Information identifizieren Kinder, wenn sie eine Sprache erwerben, Affixe und überhaupt Paradigmen.

Lit.:

Wunderlich, Dieter 1995: Minimalist morphology: the role of paradigms. In: Yearbook of Morphology 1995, 93-114

*?* 1996: A Minimalist Model of Inflectional Morphology. In: Chris Wilder/Hans-Martin Gärtner/Manfred Bierwisch (eds.) 1996: The Role of Economy Principles in Linguistic Theory. Berlin: Akademie-Verlag, 267-298

Wunderlich, Dieter/Ray, Fabri 1996: Minimalist Morphology: An Approach to Inflection, Zeitschrift für Sprachwissenschaft 14, 236-294


Soweit die Vorstellung neuerer Methoden, die man auch in der Indogermanistik anwenden kann.



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