Professor Dr. Jürgen Udolph,
Sieboldshausen bei Göttingen
In einem Bericht von Bernfried Schlerath "Die Griechen kamen aus Kleinasien"
(F.A.Z. "Geisteswissenschaften" vom 4. Juni) wird betont, die indogermanische Sprachwissenschaft
habe "in den vergangenen Jahrzehnten entscheidende Fortschritte gemacht". Die für
die Fragen nach Heimat und Expansion wichtigste Teildisziplin der Indogermanistik
spielt jedoch weder in seinem Bericht noch in dem vorgestellten Buch von Thomas
V. Gamkrelidze und Vjaçeslav V. Ivanov (russisches Original bereits 1985 in Tiflis
erschienen) eine Rolle. Dabei hat schon vor 300 Jahren Gottfried Wilhelm Leibniz
den entscheidenden Weg gewiesen: "Ich bemerke nebenbei, daß die Flußnamen, da sie
gewöhnlich aus der ältesten Zeit stammen, am besten die alte Sprache und die alten
Bewohner bezeichnen, weswegen sie eine besondere Untersuchung verdienten. Und die
Sprachen, die ja die ältesten Denkmäler der Völker sind, zeigen am besten den Ursprung
der Verwandtschaften und Wanderungen der Völker."
Die von Schlerath zu Recht unterstrichene Notwendigkeit der Zusammenarbeit
mit den Prähistorikern kann aus sprachwissenschaftlicher Sicht vor allem durch die
Untersuchung der Orts- und Gewässernamen erbracht werden. Dank der Zähigkeit geographischer
Namen lassen sich wichtige Fragen der Vor- und Frühgeschichte wie Heimat und Expansion
slawischer und germanischer Stämme, die ehemalige Ausbreitung der Kelten in Deutschland,
die Landnahme Englands durch germanische Eroberer und anderes mehr viel eher einer
Klärung zuführen als durch Wortschatzgleichungen oder grammatikalische Übereinstimmungen.
In der Aufdeckung der alteuropäischen Hydronymie durch Hans Krahe und deren
Weiterentwicklung durch W.P. Schmid liegt einer der entscheidenden Fortschritte
der Indogermanistik der letzten Jahrzehnte. Im Lichte der Gewässer- und Ortsnamenforschung
ist aber die von Gamkrelidze und Ivanov betonte Herkunft der Griechen aus Kleinasien
mehr als fraglich. Wie sollte man dann verstehen, daß zahlreiche Fluß- und Ortsnamen
Europas nur mit Hilfe griechischen Wortmaterials erklärt werden können? Das gilt
für Rhone, Rednitz, Regnitz, Reda ebenso wie für Diepholz, Bzura (Nebenfluß der
Weichsel), Tiber, Theiß, Temesch, Eresburg, Netze/Note*?*, Strut, Zschopau, Schefflenz,
Lac Léman (Genfer See) und zahlreiche weitere Fälle. Die engen Beziehungen des Baltischen
mit dem Griechischen (W.P. Schmid) kommen noch hinzu. Die These einer Zuwanderung
der Griechen aus Kleinasien kann nur dann als gesichert gelten, wenn Gewässer- und
Ortsnamen dieses stützen. Das ist bisher keineswegs der Fall.