Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.1997

Professor Dr. Jürgen Udolph,

Sieboldshausen bei Göttingen


Gewässernamen außer Betracht


In einem Bericht von Bernfried Schlerath "Die Griechen kamen aus Kleinasien" (F.A.Z. "Geisteswissenschaften" vom 4. Juni) wird betont, die indogermanische Sprachwissenschaft habe "in den vergangenen Jahrzehnten entscheidende Fortschritte gemacht". Die für die Fragen nach Heimat und Expansion wichtigste Teildisziplin der Indogermanistik spielt jedoch weder in seinem Bericht noch in dem vorgestellten Buch von Thomas V. Gamkrelidze und Vjaçeslav V. Ivanov (russisches Original bereits 1985 in Tiflis erschienen) eine Rolle. Dabei hat schon vor 300 Jahren Gottfried Wilhelm Leibniz den entscheidenden Weg gewiesen: "Ich bemerke nebenbei, daß die Flußnamen, da sie gewöhnlich aus der ältesten Zeit stammen, am besten die alte Sprache und die alten Bewohner bezeichnen, weswegen sie eine besondere Untersuchung verdienten. Und die Sprachen, die ja die ältesten Denkmäler der Völker sind, zeigen am besten den Ursprung der Verwandtschaften und Wanderungen der Völker."

Die von Schlerath zu Recht unterstrichene Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Prähistorikern kann aus sprachwissenschaftlicher Sicht vor allem durch die Untersuchung der Orts- und Gewässernamen erbracht werden. Dank der Zähigkeit geographischer Namen lassen sich wichtige Fragen der Vor- und Frühgeschichte wie Heimat und Expansion slawischer und germanischer Stämme, die ehemalige Ausbreitung der Kelten in Deutschland, die Landnahme Englands durch germanische Eroberer und anderes mehr viel eher einer Klärung zuführen als durch Wortschatzgleichungen oder grammatikalische Übereinstimmungen.

In der Aufdeckung der alteuropäischen Hydronymie durch Hans Krahe und deren Weiterentwicklung durch W.P. Schmid liegt einer der entscheidenden Fortschritte der Indogermanistik der letzten Jahrzehnte. Im Lichte der Gewässer- und Ortsnamenforschung ist aber die von Gamkrelidze und Ivanov betonte Herkunft der Griechen aus Kleinasien mehr als fraglich. Wie sollte man dann verstehen, daß zahlreiche Fluß- und Ortsnamen Europas nur mit Hilfe griechischen Wortmaterials erklärt werden können? Das gilt für Rhone, Rednitz, Regnitz, Reda ebenso wie für Diepholz, Bzura (Nebenfluß der Weichsel), Tiber, Theiß, Temesch, Eresburg, Netze/Note*?*, Strut, Zschopau, Schefflenz, Lac Léman (Genfer See) und zahlreiche weitere Fälle. Die engen Beziehungen des Baltischen mit dem Griechischen (W.P. Schmid) kommen noch hinzu. Die These einer Zuwanderung der Griechen aus Kleinasien kann nur dann als gesichert gelten, wenn Gewässer- und Ortsnamen dieses stützen. Das ist bisher keineswegs der Fall.



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