Berlin, den 18. 9. 00 An die Frankfurter Allgemeine Zeitung Leserbriefredaktion 60267 Frankfurt am Main Sehr geehrte Damen und Herren, in dem Artikel „Eine Art Jäger-Latein“ vom 6. September äußert Hansjörg Küster Ansichten zur Geschichte der „indoeuropäischen“ Sprachen. Ihm ist entgangen, daß die Träger dieser Sprachen auf deutsch „Indogermanen“ genannt werden, und daß fast an jeder deutschsprachigen Universität das Fach Indogermanistik gelehrt wird. Dieser Terminus bezeichnet die Sprachfamilie, deren östlichste Vertreter in Indien leben und deren westlichste Sprecher eine germanische Sprache (isländisch) sprechen. Er ist sinnvoller als das in den anderen Sprachen gebrauchte „Indoeuropäer“, der meint Inder + Europäer, was nicht stimmt, denn auch im Iran wird eine indogermanische Sprache gesprochen (neupersich) und in Anatolien gab es einst indogermanische Sprachen (vor allem Hethitisch), ebenso wie in Ostturkestan (Tocharisch). An diese fest etablierten Termini sollte man jedoch nicht rühren. – Diese Uninformiertheit hat es dem Autor möglicherweise unmöglich gemacht, sich über die elementarsten Kenntnisse über die Indogermanen, etwa im Brockhaus oder Meyer zu informieren, wo er auch Hinweise auf weiterführende Literatur gefunden hätte. – Küster schreibt, daß Archäologen, Sprachwissenschaftler und Ökologen mehr und mehr bezweifeln, daß die Ausbreitung der Indogermanen (richtiger wäre zu sagen: der indogermanischen Sprachen) durch Völkerwanderung erfolgt sei. Das stimmt in dieser Form nicht. Vielmehr stimmen alle ernstzunehmenden Forscher darin überein, daß eine Verbreitung über ein so riesiges Gebiet nicht ganz ohne Wanderbewegungen stattgefunden haben kann. Die Frage kann nicht behandelt werden, ohne daß man auf die Urheimat der Indogermanen eingeht. Der Verfasser erwähnt dieses Problem überhaupt nicht, sondern beschränkt sich auf Europa. So kann er zu keiner ausgewogenen Sicht der Dinge kommen. Die Urheimat wird heute meist in der Gegend des Schwarzen und Kaspischen Meers gesehen, einige verlegen sie in den Kaukasus, auch Anatolien oder das Baltikum werden genannt. Die meisten Indogermanisten lehnen es jedoch ab, sich zu dieser Frage zu äußern, weil der Lage der Dinge nach jede Antwort höchst spekulativ sein muß. Der Grund liegt darin, daß man prähistorische Kulturen nicht mit Sprachen gleichsetzen kann. Dem prähistorischen Kulturbegriff liegen die materiellen Substrate zugrunde, die sich nur im a priori unwahrscheinlichen Idealfall mit Sprachen decken. Die Rekonstruktion des Urindogermanischen und der Zwischenstufen zwischen Urindogermanisch und den belegten Einzelsprachen, die zu sehr genauen und exakt differenzierten Ergebnissen führt, läßt sich zudem nicht auf eine absolute Chronologie festlegen, was jede Beziehung auf die – natürlich gut zu datierenden - prähistorischen Kulturen vor allem in den älteren Perioden (Steinzeit) unmöglich macht. – Die Ausbreitung von Sprachen vollzieht sich so, daß verschiedene Sprachen in einem gleichen Gebiet gesprochen werden. Das ist die Folge einer kriegerischen Eroberung oder eines Einsickerns von Sprechern einer anderen Sprache. Die Ursachen für ein solches Einsickern können sehr verschiedener Art sein. Dann geben – wiederum aus verschiedenen Gründen – meist Angehörige der jüngeren Generation ihre Sprache auf und wechseln zu der anderen Sprache über. So z.B. bei dem in Deutschland gesprochenen stark gefährdeten Obersorbischen zu beobachten. Wenn Küster sagt: „Jahrtausende lang bestanden lockere Kontakte unter Europas Bauern, deren Sprachen sich daher mehr oder weniger starker ähneln. Allein durch diesen sprachlichen und kulturellen Austausch kann es zur Verwandtschaft indoeuropäischer Sprachen gekommen sein“, so ist das blanker Unsinn. Was ist mit den nicht minder „ähnlichen“ indogermanische Sprachen außerhalb Europas? Aussterbende Minderheitensprachen können im Wortschatz überfremdet sein, sie können syntaktische Charakteristika der überlegenen Sprache annehmen oder auch gleiche idiomatische Wendungen aufweisen, sie können aber niemals die allein entscheidende grammatische Struktur ablegen. Der genau untersuchte balkanische Sprachbund hat manche Gemeinsamkeiten entwickelt, aber es wäre undenkbar, daß man eines Tages nicht mehr sehen könnte, daß Rumänisch eine romanische und Bulgarisch eine slawische Sprache ist. – Die von Küster angeführten unterschiedlichen ökologischen Bedingungen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Lebensweisen der Bevölkerung haben keinen Einfluß auf die Sprachen. Eine solche Annahme ist laienhafte Phantasie. – Wenn Küster zu dem Schluß kommt: „Die `Bauernsprachen´ waren indoeuropäisch, die `Jägersprachen´ finno-ugrisch“, so müßte er zunächst erläutern, was er unter „Bauernsprache“ und „Jägersprache“ versteht. Er kann es nicht, weil es so etwas überhaupt nicht gibt. In der Grammatik ohnehin nicht, aber auch im Wortschatz ist es doch nicht so, daß den indogermanischen Sprachen Europas eine auf die Jagd bezügliche Terminologie fehlen würde. – Wir haben durch die rekonstruierte indogermanische Dichtersprache ein deutliches Bild der Ideologie der Protoindogermanen. In ihrem Mittelpunkt steht der unvergängliche Ruhm der Krieger. Für Bauern typische Fruchtbarkeitskulte sind nicht zu rekonstruieren. Küsters Ausführungen verdienen nicht einmal die Bezeichnung „verfehlte Theorie“. Sie sind nicht diskussionswürdig. Wenn dennoch hier so ausführlich Stellung genommen wird, so geschieht es, um die Indogermanstik, eine in vielen Teilen der Welt blühende und erfolgreiche Wissenschaft, von diesem Artikel zu distanzieren. Sie hat es ohnehin außerordentlich schwer, die sehr komplizierten Ergebnisse der historischen Sprachwissenschaft, vor allem auf dem Gebiet der Lautlehre und der Morphologie, einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Wer sich dafür interessiert, sei auf das kürzlich erschienene de Gruyter Studienbuch „Indogermanische Sprachwissenschaft“ von M. Meier-Brügger verwiesen. Klaus-Jürgen Grundner 19. 9. 2000 Eisenacher Straße 16 10781 Berlin An die Frankfurter Allgemeinen Zeitung 19. 9. 2000 Leserbriefredaktion z.Hd. Frau Katharina Knothe 60267 Frankfurt am Main Betr: Küster, Hansjörg: Eine Art Jägerlatein FAZ 6.9.00 Bezug: Leserbrief von Prof. Dr. B. Schlerath vom 10. 9. 00 Sehr geehrte Frau Knothe, Sie sahen sich leider gezwungen, den o.g. Leserbrief meines Lehrers mit der Begründung abzulehnen, die Dreimonatsbrief für Leserbriefe sei noch nicht abgelaufen. Um diese Verhinderung aufzuheben, habe ich mich nach Absprache mit meinem Lehrer entschlossen, den Leserbrief vollinhaltlich zu übernehmen und Ihnen abermals zum Abdruck vorzuschlagen. Mit freundlichen Grüßen