Nicht abgedruckter Leserbrief an die FAZ


Prof. em. Dr. Bernfried Schlerath

Brümmerstr. 62

D-14195 Berlin

Berlin, den 8. März 1998


An die

Leserbriefredaktion

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

60267 Frankfurt am Main


Zu: "Diskreter Abstand vom Kochkessel der Kannibalen", FAZ vom 4. 3. 1998


Jürg Altwegg hat in dem Artikel zum 100. Geburtstag von Georges Dumézil ein zutreffendes Bild des Mythenforschers und Entdeckers der trifunktionalen indogermanischen Ideologie gezeichnet, wie es sich von außen darbietet, und eine differenzierte Beurteilung seiner politischen Stellung geliefert. Dumézil war nicht erst nur nach seiner späten Aufnahme in die Académie ein "öffentlich verehrter Denker". - Ihm ist es zu verdanken, daß das Fach Indogermanistik in der gehobenen Tagespresse weltweit immer wieder Erwähnung gefunden hat. Die Indogermanistik hat es besonders schwer, sich in den Medien darzustellen. Ihr Hauptgebiet, die Beschreibung der Geschichte der grammatischen Systeme der indogermanischen Sprachen und die darauf aufbauende Rekonstruktion der urindogermanischen Grammatik, ist nur dem zu vermitteln, der sich eine gründliche Kenntnis in einigen altindogermanischen Sprachen, wie etwa dem Griechischen, Lateinischen und dem Sanskrit erworben hat. So sind die bedeutenden Erfolge der Indogermanistik, die z.B. bei der Erforschung des Hethitischen und Tocharischen erzielt worden sind, notwendigerweise einer weiteren Öffentlichkeit verborgen geblieben. - Etwas leichter hat es die Indogermanistik, wenn sie sich mit der Religionsgeschichte, der "Ideologie", und - in Zusammenarbeit mit Prähistorikern - mit dem Problem der Urheimat der Indogermanen befaßt.

Man sollte also denken, daß die Indogermanisten dankbar Dumézil als einen Vordenker begreifen, der das Fach nach außen zur Geltung bringt. Dem ist aber nicht so. Dumézil hat seine dreifunktionale Ideologie - sakrale Herrschaft (politische und magisch-religiöse Souveränität), physische Gewaltausübung der Krieger und Fruchtbarkeit (Reichtum, Heilkraft) - vor allem aus lateinischen und altindischen Texten geschöpft. Nahezu alle Indogermanisten und nahezu alle Philologen dieser Sprachen haben erkannt, daß Dumézil etwas in die Texte hineingelesen hat, das auch bei bestem Willen nicht darin steht. So hat Dumézil im Laufe von 40 Jahren immer wieder ausführliche Deutungen vor allem von Vergil und Properz vorgelegt, die zusammen viele hundert Seiten füllen. Dennoch fehlt sein Name völlig in der unermeßlichen Literatur der Klassischen Philologie. Man hatte und hat das Gefühl, daß es sich um haltlose Spekulationen handelt, die nicht einmal die Mühe einer Ablehnung verdienen.

Genauso steht es mit der altindischen Philologie. Dort hat nur der Doyen des Faches, Paul Thieme, sich mehrmals in eine Polemik mit Dumézil eingelassen. In den zahlreichen Büchern und Artikeln über altindische Religonsgeschichte kommt der Name Dumézil auch dann nicht vor, wenn dieselben Götter und Mythen behandelt werden, die er für seine dreifunktionale Ideologie in Anspruch genommen hat. Das ist keine Unkenntniss, sondern man hält Dumézil nicht für diskussionswürdig. - Etwas anders steht es mit seiner Lehre auf altiranischem und germanischem Gebiet. Dort hat er durchaus einige prominente Anhänger gefunden. Das liegt daran, daß die Religion auf diesen Gebieten so gravierende Umgestaltungen erfahren hat, daß die Verfehltheit seiner Spekulationen nicht so offen zutage liegt. Heute jedoch finden sich auch unter Iranisten und Germanisten kaum noch Anhänger von Dumézils Theorie.

Weil ich der Ansicht war, daß man eine Lehre, die außerhalb der Fachwelt so viel Anklang und Bekanntheit gefunden hat, in der wissenschaftlichen Diskussion nicht auf die Dauer mit Stillschweigen übergehen dürfe, habe ich die philologischen Grundlagen der Dumézilschen Theorie einer ausführlichen Nachprüfung unterzogen (Kratylos 40, 1995, S. 1-48; 41, 1996, S. 1-67). Das Fazit war durchweg negativ.

Kurz vor seinem Tode hat Dumézil in einem Interwiew mit D. Eribon gesagt, daß, wenn er unrecht gehabt habe, sein wissenschaftliches Leben keinen Sinn gehabt habe. Immerhin habe es aber eine Funktion gehabt: es habe ihm Spaß gemacht. Sei seine Theorie eine Konstruktion außerhalb der wissenschaftlichen Realität gewesen, so sei das nicht so schlecht. Man brauche seine Bücher in diesem Fall in den Bibliotheken nur unter die Rubrik "Romane" zu verschieben. Altersresignation oder doch vielleicht aufkommende begründete Zweifel?



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