Prof. Dr. Bernfried Schlerath, Berlin
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die indogermanische Sprachwissenschaft
in den vergangenen Jahrzehnten entscheidende Fortschritte gemacht. Auf die Periode
der Junggrammatiker, die die Materialmasse ordneten, die sich aus der Aufarbeitung
der historischen Grammatik der indogermanischen Sprachen ergab, folgte die Zeit,
in der die Geschichte der einzelnen Sprachen bis in die feinsten Verästelungen nachgezeichnet
wurde. Das Augenmerk galt dem zu Anfang des Jahrhunderts neu entdeckten Tocharischen
(von etwa 400 bis 700 in Ostturkestan bezeugt) und dem Hethitischen (seit dem siebzehnten
Jahrhundert vor Christus in Kleinasien gesprochen).
Die vom Bau der altbekannten indogermanischen Sprachen deutlich abweichenden
Strukturen dieser beiden Sprachen brachten das Bild vom Verwandtschaftsverhältnis
der indogermanischen Sprachen durcheinander und führten zu verschiedenen neuen Theorien.
Dabei wuchsen die Anforderungen an die Wissenschaftler: Der Tocharologe muß sich
in den buddhistischen Sanskritschriften, aus denen die tocharischen Texte zum größten
Teil übersetzt sind, gut auskennen, der Hethitologe muß sich auch in das (semitische)
Akkadische, das Sumerische und das ebenfalls unverwandte Hurritische einarbeiten.
Gerade auf dem Gebiet des Tocharischen und in den anatolischen Sprachen sind in
der jüngsten Zeit große Erfolge erzielt worden.
Natürlich ist man nicht bei der Rekonstruktion der protoindogermanischen
Grammatik und der Erschließung des Lexikons stehengeblieben. Zusammen mit den Prähistorikern
versucht man, die Sozialstruktur, die Religion und die materielle Kultur der Indogermanen
aufzudecken. Die Abgrenzungen der frühgeschichtlichen Kulturen und ihre Ausbreitungsbewegungen
decken sich allerdings nicht mit den Sprachgrenzen. Auch für eine so weit zurückliegende
Epoche wie die hier allein in Frage kommende Jungsteinzeit ist es offenbar naiv,
eine Einheit von Sprache, Rasse, Volk und Kultur vorauszusetzen. Eine Bestimmung
der Urheimat der Indogermanen ist deshalb methodisch äußerst schwierig. Der Versuch
des Prähistorikers Colin Renfrew (1987), die Ausbreitung der Indogermanen an Entstehung
und Ausbreitung des Ackerbaus zu koppeln, wird allgemein abgelehnt.
Die Fortschritte der Allgemeinen Linguistik (General Linguistics) wurden
von der Indogermanistik sorgfältig beobachtet, und das, was in die Methode der Erforschung
der Sprachgeschichte mit Gewinn eingebracht werden kann, wird angeeignet. Man hat
von de Saussure gelernt, das grammatische System der Sprachen als ein Geflecht von
in einem Spannungsverhältnis zueinander stehenden Oppositionen zu verstehen.
Kaum einen Gewinn konnte die historische Sprachwissenschaft aus der Generativen
Transformationsgrammatik ziehen, die seit 1957 in immer neuen Varianten aufgetreten
ist. Sie hat die Erwartungen nicht erfüllen können. Es handelte sich um den Versuch,
die Regeln aufzudecken, die den in der "Tiefenstruktur" intendierten Satz in die
oft nicht eindeutige "Oberflächenstruktur" der jeweiligen Sprache überführen. Die
Regeln sind zureichend aufgestellt, wenn sich in der Oberfläche ein für den Muttersprachler
akzeptabler Satz ergibt. Der historisch arbeitende Sprachwissenschaftler muß sein
grammatisches und stilistisches Feingefühl schärfen, um die Eigenarten der von ihm
untersuchten Texte festzustellen. Der generative Grammatiker geht mit von ihm selbst
generierten Sätzen um, die kein ernst zu nehmendes Studienobjekt darstellen. Schon
aus diesem Grund ist der Nutzen dieser Grammatiktheorie für den Indogermanisten
eng begrenzt. Große Fortschritte hat die Sprachtypologie gemacht. Eine Schwierigkeit
in diesem Teilgebiet der Linguistik liegt darin, daß nur wenige Sprachforscher wirklich
intime Kenntnisse in ganz unterschiedlich strukturierten Sprachfamilien haben.
Ein Meilenstein auf dem Gebiet der Indogermanistik ist das 1995 auf englisch
erschienene Werk des Georgiers Thomas V. Gamkrelidze und des Russen Vjaçeslav V.
Ivanov (Indo-European and the Indo-Europeans. A Reconstruction and Historical Analysis
of a Proto-Language and a Proto-Culture. Mouton de Gruyter, Berlin und New York
1995, zwei Bände). Es kann als umfassendes Handbuch gelten, weil es das gesamte
Wissen von der indogermanischen Grundsprache und von Heimat und Kultur der Indogermanen
auf dem neuesten Stand der Forschung in Grundzügen darstellt. Zugleich aber weist
es in die Zukunft, denn es stellt auf fast allen Teilgebieten des Fachs neue, oft
provozierende Thesen auf.
Der methodische Fortschritt des Werkes besteht in zwei konsequent befolgten
Prinzipien: Die Ergebnisse des Rekonstrukts werden auf ihre typologische Glaubwürdigkeit
überprüft, und im Falle einer typologischen Unwahrscheinlichkeit werden die grammatischen
Phänomene verschiedenen chronologischen Schichten zugeordnet. Es wird also innerhalb
des rekonstruierten Indogermanischen eine Entwicklung angenommen. Ganz fremd war
eine solche Methode der traditionellen Indogermanistik natürlich nicht. So war es
schon immer klar, daß beispielsweise das schwache Präteritum der germanischen Sprachen
eine Neuerung war oder daß das lateinische Imperfekt auf -ba- nicht der voraufliegenden
Grundsprache angehören konnte. Auch hat man schon seit langem gesehen, daß beispielsweise
die Endung des Akkusativ Plural -ns aus der Endung des Akkusativ Singular -m und
dem Pluralzeichen -s zusammengesetzt ist. Dieses Prinzip der Pluralisierung der
Singularendungen ist im unmittelbar rekonstruierten Indogermanischen nicht mehr
deutlich erkennbar. Erst Gamkrelidze und lvanov haben diese Sichtweise weitergeführt,
nicht nur bei der Behandlung der Morphologie, sondern auch auf die Syntax angewandt
und durch eine typologische Einordnung in einen umfassenden Zusammenhang gestellt.
Die Typologie kann aber im Einzelfall nie so stringente Ergebnisse erzielen
wie die traditionelle diachronische Linguistik. Sie gleicht diesen Mangel durch
die Menge der Einzelbeobachtungen
aus. Das Ergebnis dieser Forschungen ist die Erkenntnis, daß das Indogermanische
ursprünglich eine Sprache des sogenannten Aktiv-Typs ist, die sich noch vor der
Trennung in verschiedene Zweige in eine solche des Nominativ-Akkusativ-Typs wandelte.
Der älteste erreichbare Zustand stellt das Indogermanische neben das Kartvelische
im Kaukasus, das - wie G.A. Klimov nachgewiesen hatte - ebenfalls dem Aktiv-Typ
angehörte, bevor es sich zu einer Ergativ-Sprache entwickelte. In diesem Zusammenhang
stellen die Autoren eine Typologie der Transformationen der Aktiv-Sprachen auf.
Eine typologische Nähe des Indogermanischen zu den Kartvel-Sprachen, zu
denen auch das Georgische gehört, stellt Gamkrelidze auch im Lautsystem fest. Er
läßt die lautgesetzlichen Entsprechungen unangetastet, setzt aber für das rekonstruierte
Indogermanische andere Phoneme als die traditionelle Indogermanistik ein und gelangt
so zu einem typologisch befriedigenden System. Diese Theorie ist in den vergangenen
zehn Jahren lebhaft diskutiert worden.
Während die Ergebnisse des Buches nur den Spezialisten zugänglich sind,
dürfte die zweite Hälfte des Werkes auch weitere Kreise interessieren. Sie enthält
ein vollständiges semantisches Wörterbuch des Protoindogermanischen. Zu jedem Wort
werden Informationen gegeben, die die dahinterstehenden Vorstellungen oder Realien
betreffen. Viele Wörter von Pflanzen oder Tieren, die man bis jetzt als frühe Entlehnungen
aus unbekannten Sprachen ansah, werden als indogermanisch gedeutet, so etwa die
Wörter für den Apfel, die Kirsche, ferner die für Leopard, Löwe, Panther, Affe,
Elefant. Die Gegenstände der materiellen Kultur wie Pflug und Wagen werden mit den
prähistorischen Funden verglichen und lokalisiert. Besonderer Wert wird auf die
Rekonstruktion der religiösen Vorstellungen und der Rituale gelegt. Das indogermanische
Pantheon wurde den Verfassern zufolge von zwei Hauptgottheiten dominiert: dem "Vater
Himmel", der mit der Priesterschaft assoziiert und für den Schutz der Menschen und
die Fruchtbarkeit zuständig war, und dem Kriegsgott Perkwunas, der ebenfalls die
Fruchtbarkeit der Felder garantierte. Diese stark vereinfachende Darstellung der
Götterwelt wird wohl den meisten Widerspruch finden.
Die Umwelt der Indogermanen und ihre materielle Kultur, so wie sie sich
aus dem Vokabular ergeben, lassen nur den Schluß zu, daß die Urheimat an den Südhängen
des Kaukasus lag und auf das Ende des fünften Jahrtausends zu datieren ist. Dafür
sollen auch die alten Entlehnungen von Wörtern aus den benachbarten alten kleinsiatischen
Sprachen sprechen. Die typologischen Parallelen zu den kartvelischen Sprachen würden
demnach auf ein gemeinsames typologisches Areal schließen lassen.
Aufgrund dieser Hypothese werden dann die Trennung in die einzelnen Sprachzweige
und die frühen Wanderwege rekonstruiert. Die einschneidendste Änderung erfährt der
Wanderweg der späteren Griechen: Während man bisher die Urheimat der Indogermanen
in die Gegend zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer verlegte und anahm, daß die
Griechen von Norden in ihre späteren Wohnsitze gewandert
seien, meinen Gamkrelidze und Ivanov nun, daß sie über Kleinasien gekommen sind.