Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.6.97

Prof. Dr. Bernfried Schlerath, Berlin


Die Griechen kamen aus Kleinasien

Neue Erkenntnisse über die Proto-Sprache und Proto-Kultur der
Indogermanen


Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die indogermanische Sprachwissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten entscheidende Fortschritte gemacht. Auf die Periode der Junggrammatiker, die die Materialmasse ordneten, die sich aus der Aufarbeitung der historischen Grammatik der indogermanischen Sprachen ergab, folgte die Zeit, in der die Geschichte der einzelnen Sprachen bis in die feinsten Verästelungen nachgezeichnet wurde. Das Augenmerk galt dem zu Anfang des Jahrhunderts neu entdeckten Tocharischen (von etwa 400 bis 700 in Ostturkestan bezeugt) und dem Hethitischen (seit dem siebzehnten Jahrhundert vor Christus in Kleinasien gesprochen).

Die vom Bau der altbekannten indogermanischen Sprachen deutlich abweichenden Strukturen dieser beiden Sprachen brachten das Bild vom Verwandtschaftsverhältnis der indogermanischen Sprachen durcheinander und führten zu verschiedenen neuen Theorien. Dabei wuchsen die Anforderungen an die Wissenschaftler: Der Tocharologe muß sich in den buddhistischen Sanskritschriften, aus denen die tocharischen Texte zum größten Teil übersetzt sind, gut auskennen, der Hethitologe muß sich auch in das (semitische) Akkadische, das Sumerische und das ebenfalls unverwandte Hurritische einarbeiten. Gerade auf dem Gebiet des Tocharischen und in den anatolischen Sprachen sind in der jüngsten Zeit große Erfolge erzielt worden.

Natürlich ist man nicht bei der Rekonstruktion der protoindogermanischen Grammatik und der Erschließung des Lexikons stehengeblieben. Zusammen mit den Prähistorikern versucht man, die Sozialstruktur, die Religion und die materielle Kultur der Indogermanen aufzudecken. Die Abgrenzungen der frühgeschichtlichen Kulturen und ihre Ausbreitungsbewegungen decken sich allerdings nicht mit den Sprachgrenzen. Auch für eine so weit zurückliegende Epoche wie die hier allein in Frage kommende Jungsteinzeit ist es offenbar naiv, eine Einheit von Sprache, Rasse, Volk und Kultur vorauszusetzen. Eine Bestimmung der Urheimat der Indogermanen ist deshalb methodisch äußerst schwierig. Der Versuch des Prähistorikers Colin Renfrew (1987), die Ausbreitung der Indogermanen an Entstehung und Ausbreitung des Ackerbaus zu koppeln, wird allgemein abgelehnt.


Chronologische Schichten


Die Fortschritte der Allgemeinen Linguistik (General Linguistics) wurden von der Indogermanistik sorgfältig beobachtet, und das, was in die Methode der Erforschung der Sprachgeschichte mit Gewinn eingebracht werden kann, wird angeeignet. Man hat von de Saussure gelernt, das grammatische System der Sprachen als ein Geflecht von in einem Spannungsverhältnis zueinander stehenden Oppositionen zu verstehen.

Kaum einen Gewinn konnte die historische Sprachwissenschaft aus der Generativen Transformationsgrammatik ziehen, die seit 1957 in immer neuen Varianten aufgetreten ist. Sie hat die Erwartungen nicht erfüllen können. Es handelte sich um den Versuch, die Regeln aufzudecken, die den in der "Tiefenstruktur" intendierten Satz in die oft nicht eindeutige "Oberflächenstruktur" der jeweiligen Sprache überführen. Die Regeln sind zureichend aufgestellt, wenn sich in der Oberfläche ein für den Muttersprachler akzeptabler Satz ergibt. Der historisch arbeitende Sprachwissenschaftler muß sein grammatisches und stilistisches Feingefühl schärfen, um die Eigenarten der von ihm untersuchten Texte festzustellen. Der generative Grammatiker geht mit von ihm selbst generierten Sätzen um, die kein ernst zu nehmendes Studienobjekt darstellen. Schon aus diesem Grund ist der Nutzen dieser Grammatiktheorie für den Indogermanisten eng begrenzt. Große Fortschritte hat die Sprachtypologie gemacht. Eine Schwierigkeit in diesem Teilgebiet der Linguistik liegt darin, daß nur wenige Sprachforscher wirklich intime Kenntnisse in ganz unterschiedlich strukturierten Sprachfamilien haben.

Ein Meilenstein auf dem Gebiet der Indogermanistik ist das 1995 auf englisch erschienene Werk des Georgiers Thomas V. Gamkrelidze und des Russen Vjaçeslav V. Ivanov (Indo-European and the Indo-Europeans. A Reconstruction and Historical Analysis of a Proto-Language and a Proto-Culture. Mouton de Gruyter, Berlin und New York 1995, zwei Bände). Es kann als umfassendes Handbuch gelten, weil es das gesamte Wissen von der indogermanischen Grundsprache und von Heimat und Kultur der Indogermanen auf dem neuesten Stand der Forschung in Grundzügen darstellt. Zugleich aber weist es in die Zukunft, denn es stellt auf fast allen Teilgebieten des Fachs neue, oft provozierende Thesen auf.

Der methodische Fortschritt des Werkes besteht in zwei konsequent befolgten Prinzipien: Die Ergebnisse des Rekonstrukts werden auf ihre typologische Glaubwürdigkeit überprüft, und im Falle einer typologischen Unwahrscheinlichkeit werden die grammatischen Phänomene verschiedenen chronologischen Schichten zugeordnet. Es wird also innerhalb des rekonstruierten Indogermanischen eine Entwicklung angenommen. Ganz fremd war eine solche Methode der traditionellen Indogermanistik natürlich nicht. So war es schon immer klar, daß beispielsweise das schwache Präteritum der germanischen Sprachen eine Neuerung war oder daß das lateinische Imperfekt auf -ba- nicht der voraufliegenden Grundsprache angehören konnte. Auch hat man schon seit langem gesehen, daß beispielsweise die Endung des Akkusativ Plural -ns aus der Endung des Akkusativ Singular -m und dem Pluralzeichen -s zusammengesetzt ist. Dieses Prinzip der Pluralisierung der Singularendungen ist im unmittelbar rekonstruierten Indogermanischen nicht mehr deutlich erkennbar. Erst Gamkrelidze und lvanov haben diese Sichtweise weitergeführt, nicht nur bei der Behandlung der Morphologie, sondern auch auf die Syntax angewandt und durch eine typologische Einordnung in einen umfassenden Zusammenhang gestellt.

Die Typologie kann aber im Einzelfall nie so stringente Ergebnisse erzielen wie die traditionelle diachronische Linguistik. Sie gleicht diesen Mangel durch die Menge der Einzelbeobachtungen aus. Das Ergebnis dieser Forschungen ist die Erkenntnis, daß das Indogermanische ursprünglich eine Sprache des sogenannten Aktiv-Typs ist, die sich noch vor der Trennung in verschiedene Zweige in eine solche des Nominativ-Akkusativ-Typs wandelte. Der älteste erreichbare Zustand stellt das Indogermanische neben das Kartvelische im Kaukasus, das - wie G.A. Klimov nachgewiesen hatte - ebenfalls dem Aktiv-Typ angehörte, bevor es sich zu einer Ergativ-Sprache entwickelte. In diesem Zusammenhang stellen die Autoren eine Typologie der Transformationen der Aktiv-Sprachen auf.


Pflug und Wagen


Eine typologische Nähe des Indogermanischen zu den Kartvel-Sprachen, zu denen auch das Georgische gehört, stellt Gamkrelidze auch im Lautsystem fest. Er läßt die lautgesetzlichen Entsprechungen unangetastet, setzt aber für das rekonstruierte Indogermanische andere Phoneme als die traditionelle Indogermanistik ein und gelangt so zu einem typologisch befriedigenden System. Diese Theorie ist in den vergangenen zehn Jahren lebhaft diskutiert worden.

Während die Ergebnisse des Buches nur den Spezialisten zugänglich sind, dürfte die zweite Hälfte des Werkes auch weitere Kreise interessieren. Sie enthält ein vollständiges semantisches Wörterbuch des Protoindogermanischen. Zu jedem Wort werden Informationen gegeben, die die dahinterstehenden Vorstellungen oder Realien betreffen. Viele Wörter von Pflanzen oder Tieren, die man bis jetzt als frühe Entlehnungen aus unbekannten Sprachen ansah, werden als indogermanisch gedeutet, so etwa die Wörter für den Apfel, die Kirsche, ferner die für Leopard, Löwe, Panther, Affe, Elefant. Die Gegenstände der materiellen Kultur wie Pflug und Wagen werden mit den prähistorischen Funden verglichen und lokalisiert. Besonderer Wert wird auf die Rekonstruktion der religiösen Vorstellungen und der Rituale gelegt. Das indogermanische Pantheon wurde den Verfassern zufolge von zwei Hauptgottheiten dominiert: dem "Vater Himmel", der mit der Priesterschaft assoziiert und für den Schutz der Menschen und die Fruchtbarkeit zuständig war, und dem Kriegsgott Perkwunas, der ebenfalls die Fruchtbarkeit der Felder garantierte. Diese stark vereinfachende Darstellung der Götterwelt wird wohl den meisten Widerspruch finden.

Die Umwelt der Indogermanen und ihre materielle Kultur, so wie sie sich aus dem Vokabular ergeben, lassen nur den Schluß zu, daß die Urheimat an den Südhängen des Kaukasus lag und auf das Ende des fünften Jahrtausends zu datieren ist. Dafür sollen auch die alten Entlehnungen von Wörtern aus den benachbarten alten kleinsiatischen Sprachen sprechen. Die typologischen Parallelen zu den kartvelischen Sprachen würden demnach auf ein gemeinsames typologisches Areal schließen lassen.

Aufgrund dieser Hypothese werden dann die Trennung in die einzelnen Sprachzweige und die frühen Wanderwege rekonstruiert. Die einschneidendste Änderung erfährt der Wanderweg der späteren Griechen: Während man bisher die Urheimat der Indogermanen in die Gegend zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer verlegte und anahm, daß die Griechen von Norden in ihre späteren Wohnsitze gewandert seien, meinen Gamkrelidze und Ivanov nun, daß sie über Kleinasien gekommen sind.



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