Zuviel Ausschuss
Die Geisteswissenschaften versagen in Lehre und Ausbildung / Von Josef Joffe

Die Datengebirge der Naturwissenschaften ließen sich nur mithilfe neuer theoretischer Ansätze sortieren, schrieb Wolfgang Frühwald in der vergangenen Woche. Nun kehrt Josef Joffe den Spieß um: Zuerst sollen Geisteswissenschaftler ihren eigenen Laden ordnen.


Richtiger Reflex, flasche Zielrichtung - das ist das Problem von Frühwalds Im Irrgarten der Empirie (ZEIT Nr. 50100). Zu Recht beklagt er die Agonie der Geisteswissenschaften an deutschen Universitäten, wähnt aber, dass sie von der "Ökonomisierung unseres Denkens", von "Spaßkultur" und "Klamauk-Kommunikation" zerfressen werden. Früwald: "Wer die Universitäten zu Kundenzentren" ausbauen will, werde nur die im allgemeinen Nützlichkeitswahn noch verbliebenen Denknischen auskehren", aber "keinen originellen Beitrag zur überfälligen Universitätsreform leisten."
Der Germanist und ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft leistet dergestalt zwar probate Kapitalismuskritik trifft aber daneben. Am Anfang jeglicher Diagnose müssen - horribile dictu - just jene Zahlen stehen, die anständige Geisteswissenschaftler gern in das Reich der hard sciences verweisen möchten. "Datengebirge" nennt das Früh mit kaum kaschierter Geringschätzung.
Vorweg geht es um Zahlen, die mit dem Streit zwischen den zwei Kulturen" - den Natur- und Geisteswissenschaften - wenig zu tun haben. Es geht um die Lehre, konkret die Abbrecherquoten, die sich in den Geisteswissenschaften zu einem Datengebirge von albtraumhaften Dimensionen summieren. In der Anglistik: 75 Prozent. In Geschichte und Ger- manistik: 80 Prozent. In der Philosophie: 90 Prozent. Nehmen wir Politik- und Sozialwissenschaften dazu, sind es noch einmal 75 und 80 Prozent.
Was wollen - oder sollten - uns diese Zahlen sagen? Dass Ökonomie und Kommerz" die Schuldigen seien? Auch Geisteswissenschaftler müssen logisch und nicht nur in Begriffen von "Mythen und Märchen" denken, die Frühwald den Naturwissenschaften als einen Kontrapunkt geqenüberstellt Die nüchterne Analyse würde ganz andere Fragen aufwerfen.
Zum Beispiel, ob nicht in der Universität zu wenig "Ökonomisierung" herrscht. Wer halbwegs ökonomisch (das Wörtchen kommt von "Haushalten") denkt, muss sich bei diesen Abbrecherquoten die Haare ausreißen ob solcher Ressourcenverschwendung. Er wird weiter darüber nachsinnen, ob nicht das Verhältnis zwischen "Kunden" und "Anbievern" in eine schreckliche Schieflage geraten ist. Wie interessiert sind denn die Studenten an der "Ware" Geisteswissenschaften tatsächlich? Wie fähig sind wohl die Professoren, ihren "Kundden" zu vermitteln, warum sie lernen sollten, was unser kollektives Gedächtnis, den Kern unserer Kultur ausmacht: Literatur Philosophie, Geschichte, Philologie, das ganze Spektrum dessen, was uns von, hochtrainierten Experten unterscheidet, der sich im ahistorischen, akulturellen Cyberspace bewegt?
So wird man alsbald beim verpönten "Markt" anlangen, also bei dem System namens Universität, das derlei "Fehlproduktion" zulässt oder gar begünstigt. Was man an angelsächsischen Hochschulen die soft subjects nennt, ist in Deutschland zu einem informellen Steuerungsinstrument des Arbeitsmarktes verkommen. Fast jeder genießt Zugang zu den Geisteswissenschaften - und großzügig bemessene Verweildauer obendrein. In diesem Bereich fragt kaum jemand, ob der Student motiviert oder desinteressiert, ob er mit großem oder minderem Talent gesegnet ist. Wer sich längefristig und unverbindlich an der deutschen Universität umschauen will, wer den, Gang auf den Arbeitsmarkt scheut oder nicht schafft, wird gewisslich ein geisteswissenschaftliches Fach wählen, oder deren gleich mehrere hintereinander. So entsteht ein bequemer Parkplatz, der freundlicherweise die Arbeitslosenzahlen zu schönen hilft.
Umgekehrt: Wo Ausleses und/oder erhöhte Motivation herrschen, schrumpfen die Abbrecherquoten. Verwaltungswissenschaften: fast null. Medizin: 20 Prozent. Architektur. 30 Prozent. Was daraus folgt, ist inzwischen eine alte Kamelle: Ein differenziertes Hochschulsystem muss her, in dem nicht jeder alles und überall studieren kann. In einem solchen System würden auf der "Nachfrageseite" Befähigung und Motivation, sprich: Auslese, eine gewichtige Rolle spielen. Und beim "Angebot"? Die Herren und Damen Lehrer (nein, kein Pauschalurteil!) müssten sich etwas mehr anstrengen, um die "Kunden" nicht nur in den "Laden" zu ziehen, sondern sie auch zum dauerhaften Verweilen zu animieren.
Wolfgang Frühwald würde nun monieren, dass wiederum derlei Analyse das Ziel weit verfehle. In Wahrheit sei der "posthumane" Ökonomismus schuld, oder die geringe Wertschätzung welche die Gesellschaft den Geisteswissenschaften beimesse. Mag sein. Aber warum schreiben sich jedes Semester Abertausende in den Geisteswissenschaften ein, um dann bis zu 90 Prozent zu desertieren? Warum funktionieren dagegen die humanities und liberal arts an amerikanischen Collegs und Universitäten? Dass dort sanfter Zwang im Gewande von Pflichtkuresen in Literatur oder Geschichte herrscht, kann nicht die ganze Erklärung sein. Denn dann muss man sich fragen, warum die Kids nicht gleich ins Business College gehen, statt erst einmal Philosophie und Vergleichende Literatur zu studieren. Oder Beispiel Deutschland: In der Sommeruniversität des neu gegründeten European College of Liberal Arts (ECLA) in Berlin haben sich Studenten aus aller Welt um die Plätze gerissen, dito junge Professoren aus Oxford und Stanford. Dort ging es nicht um Bio und Bytes, sondern um Descartes und Dostojewskij.
Richtiger Reflex - in der Hauptsache hat Wolfgang Frühwald jedoch Recht. Keine Gesellschaft darf es sich leisten, nur Ingenieure und Computer-Geeks zu produzieren. Nicht bloß, weil irgendeinem angeblich überkommenen Bildungsideal nachgejagt werden soll. Sondern ganz praktisch, das Humanistische seit tausend Jahren der Inbegriff von "lebenslangem Lernen" ist, das heute als A und O aller Ausbildung gefeiert wird. Wer Philsophie studiert, lernt das klare Denken und das richtige Fragen. Wer sich in Geschichte vertieft, den Rest seines Lebens, wie nun Fakten sammelt und verarbeitet Er lernt, die Welt zu verstehen, in der er lebt. Wer sich Literatur "reinzieht", erfährt etwas über die conditio humana , die ihm kein Genom-Guru vermitteln kann. Das Internet, das unser Kanzler in jeder Schule zu verankern wünscht, lehrt dagegen nichts. Erst wer die Datenspreu vom Weizen zu unterscheiden lernt, kann im Netz mit geistigem Gewinn. manövrieren.
Die Kids darauf zu stoßen kann so schwer nicht sein. Bloß muss am Anfang jeder Therapie die richtige Diagnose stehen. Nicht der "Nützlichkeitswahn" ist der Feind, sondern der Wahnsinn, der sich in jener Ressourcenvergeudung verbirgt, die uns 90 Prozent Abbrecher in einem unverzichtbaren Fach beschert.

Der Herausgeber der ZEIT ist auch Kuratioriumsmitglied des European College of Liberal Arts in Berlin.