Im Irrgarten der Empirie
Was setzen Geisteswissenschaftler dem Datengebirge der Naturwissenschaften entgegen? / Von Wolfgang Frühwald

Die Geisteswissenschaften und ihre Zukunft sind das Thema eines Schwerpunktes in der ZEIT. In dieser Ausgabe setzt sich der Germanist Wolfgang Frühwald mit den Herausforderungen der Naturwissenschaften auseinander. Von seinen Kollegen fordert er mehr Mut zur Grenzüberschreitung.


In der Hollywood-Komödie What's Up, Doc? wird der angeklagte Hauptdarsteller von einem Richter nach seinem Beruf fragt. Er sei Doktor dir Musikwissenschaften, bekennt der Befragte schüchtern. Ob er dann ein Radio reparieren könne, lautet die zweite Frage des Richten. Und als der Angeklagt verneint, wird er aufgefordert, gefälligst seinen Mund zu halten. So oder jedenfalls so ähnlich erscheint mir die Situation der Geisteswissenschaften heute.
Aus allen Ecken ertönt die Frage nach ihrem Zweck und Nutzen, nach den von ihnen vermittelten brauchbaren Fähigkeiten in einer auf Ökonomie und Kommerz. Wer die Universitäten zu Kundenzentren auszubauen vorschlägt, wer das Lehrer-Schüler-Verhätnis des akademischen Unterrichts in ein Kauf- und Kundenverhältnis verwandeln möchte, wird zwar die im allgemeinen Nützlichkeitswahn noch verbliebenen Denknischen auskehren, aber keinen originellen Beitrag zur überfälligen Universitätsreform leisten.
Dass von der fortschreitenden Ökonomisierung unseres Denkens und Sprechens vor allem die Geisteswissenschaften im engeren Sinne bedrängt werden, also jene Fächer und Disziplinen, die es mit Ästhetik, Moral und Geschichte zu tun haben, ist unmittelbar einsichtig. Was bedeuten schon die Märchen und die Mythen der Völker, wenn jeder Schritt, den die experimentellen Naturwissenschaften tun, ein weiter Schritt zur Entzauberung der Welt ist, wenn die Konstanz der Elemente durchbrochen wird, das Innere des Lebens offen liegt, Utopien und Visionen der Märchenwelten durch die wissenschaftliche Realität überholt sind?
In dem munteren Halali, das in vielen Bundesländern auf Stellen, Mittel und akademische Institutionen geblasen wird, sind jene Wissenschaften, die um ihrer Gegenstände willen an individuellen Forschungsstilen festhalten und inmitten von "Spaßkultur" und "Klamauk-Kommunikation" noch von Einsamkeit und Freiheit als den Bediungungen des Forscherlebens trämen, dem offen herbeigeführten Untergang ausgesetzt. Die derzeit im Umlauf befindlichen Modelle zur leistungsbezogenen Mittelverteilung den Universitäten bevorteilen die drittmittelstarken, experimentellen Fächer. Das Buch, das viellicht die Summe eines 20-jährigen Forscherlebens zieht, ist plötzlich nur noch eine geringwertige Ziffer in der Jahresbilanz eines Instituts.
So hat sich die Politik im Bunde mit Leitunsgremien und Verwaltungen ein auf quantitative Faktoren gestelltes Zahlenwerk errechnen lassen, in der Hoffnung, das komplizierte und widerspenstige Gebilde "Universität", das von der Sesnsibilität und der Individualität der Lehrenden und der Lernenden lebt, nun leichter lenken und vermarkten zu können. Der Krebsschaden, der Kapazitatsformel, der die Numerus-clausus-Fächer zerfressen hat, wird nicht therapiert, im Gegenteil, er hat Metastasen gebildet und greift in den Formeln so genannter Leistungsmodelle auf jene Fächer über, die sich durch Jahrzehnte hindurch mit großen Studentenzahlen abgeplagt und versucht haben, ihre Leistungstandards zu hatten.
Die Frage, ob die Geisteswissenschaften schon in der Krise sind, ist gegenüber der skizzierten Situation nachrangig. Denn die Frage nach der Dauerkrise der Geisteswissenschaften ist keine Frage nach Stellenabbau, Rationalisierung und nach der mangelnden öffentlichen Unterstützung für Inhalte und Fonnen geisteswissenschaftlich dominierter Bildung, sondern die Frage weshalb es den Geisteswissenschaften nicht gelingt, aus der wachsenden Verödung des wissenschaftlichen Lebens, aus der Langeweile rationalisierter Informationswelten ihren Vorteil zu ziehen? Während der Zeit exzessiver Theoriedebatten in den Geistes- und Sozialwissenschaften (in den fünfziger und sechziger Jahren des Jahrhunderts) haben die Naturwissenschaften jene Datengebirge errichtet, die zwar den Siegeszug der Molekularbiologie und der aus ihr entstandenen Biotechnologie eingeleitet, zugleich aber einen Empirismus begründet haben, aus dessen Irrgarten nur ein neuer theoretischer Anfang herausführen könnte.
Die Mühen, unter denen heute eine den Ergebnissen der expermentellen Biologie adäquate Evolutionstheorie zu entstehen scheint, sind vermutlich nur deshalb groß, weil die Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gesrört, die gemeinsame Theoriesprache noch nicht gefunden ist. Auch um des Fortschritts experimentell erfolgreicher Disziplinen willen ist es notwendig, den Stand des Wissens kulturell zu bewerten, jene kooperative Denkkultur zu begründen, die Edward 0. Wilson als consilience bezeichnet hat. Natürlich geht es dabei zwischen Geistes- und Naturwissenschaften um Wettbewerb, um Meinungsführaschaft und Definitionshoheit im Reich der Begriffe und Theorien, aber es geht auch um Näherungen und jene "Einheit des Wissens" aus der allein eine komplexe Evolutionstheorie entstehen könnte.
Noch ist nicht einmal das Areal einer solchen Theorie zwischen den konkurrierenden Fächern und Disziplinen aufgeteilt, wird einerseits den ihr Forschungsbegriff bestritten, verstecken sich andererseits die zum Strukturkonservatismus neigenden geisteswisftlichen Fächer hinter den Mauern ihrer Methoden und ihren zersplitternden Spezialisierungen. Die Grenzgänger in den Geisteswissenschaften, die diesen Fächern doch allein die Kraft der Welterklärung zurückgewinnen könnten, gelten noch immer eher als Dilettanten und Methodenflüchtlinge, die sich schwer tun, im institutionellen Kanon einen Platz für Forschung und Lehre zu finden.
Ich bin überzeugt, dass die Geisteswissenschaften den Wettstreit um die Juniorprofessuren, mit denen junge Menschen frühe Selbstständigkeit erhalten könnten, ausschließlich den Natur- und Lebenswissenschaften überlassen werden, dass sie so lange am unreformierten Ritual der Habilitation festhalten werden, bis die konkurrierenden Fächer sich sogar ihr eigenes Qualifikationssystem geschaffen haben werden. Dabei ruft die Wissenswelt auch und gerade in den Geisteswissenschaften, nach neuen Ideen, nach jungen, selbstständig arbeitenden Menschen und am Ende eines langen empitistischen Weges nach der umfassenden Bewertung der wegelosen Datengebirge.
Der Mut zur energischen Grenzüberschreitung, zum theoretischen und methodischen Risiko in den Geisteswissenschaften, könnte mithelfen, der Menschheit das Schicksal der Langeweile zu ersparen, das Schicksal der von Durs Grünbein so genannten Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten, in die eine allein von Experiment und Nützlichkeitsdenken geleitete Wissenschaft uns führen würde.

Wolfgang Frühwald war bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und steht seit 1999 als erster Geisteswissenschaftler an der Spitze der Alexander von Humboldt-Stiftung.