Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialien
TITUS PROJEKTE


Ausstellung


430 Jahre Litauische Postille: die Wolfenbütteler Postille

und andere Lithuanica in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.


Ausstellung vom 9. März – 25. Mai 2003


Die Herzog August Bibliothek stellt zum ersten Mal ihre in litauischer Sprache verfassten Handschriften und Drucke aus und präsentiert damit ein Stück europäischer Sprach– und Kulturgeschichte aus dem Zeitalter der Reformation.

 

WOLFENBÜTTELER POSTILLE (1573)

Herzstück aller Lithuanica der Bibliothek ist ein handschriftliches Unikum, die sog. Wolfenbütteler Postille (295 Folioblätter, Sign.: Cod. Guelf. 11. 2 Aug. 2o). Sie ist nicht nur einer der umfangreichsten litauischen Texte des 16. Jahrhunderts und die erste bekannte Predigtensammlung in dieser Sprache, sondern sogar der erste längere zusammenhängende Text in litauischer Sprache überhaupt. Das Manuskript gilt somit als eine der wichtigsten Quellen der litauischen Sprach–, Kultur– und Kirchengeschichte. Durch die Zusammenarbeit der Herzog August Bibliothek, des Institutes für Litauische Sprache (Vilnius) und der Universität Frankfurt a.M. (Vergleichende Sprachwissenschaft, wissenschaftlicher Betreuer des Projektes Prof. Dr. Jost Gippert) und durch die Finanzierung der Fritz Thyssen Stiftung Köln wird nun eine kommentierte Edition dieses hier ausgestellten wertvollen Sprachdenkmals vorbereitet.

 

Die anonym verfaßte evangelische zweiteilige Postille “Ischguldimas Euangeliu per wisus mettus, surinktas dalimis isch daugia Pastillu, tai est isch Pastillas Niculai Hemingy, Antony Corvini, Ioannis Spangenbergi, Martini Lutheri, Philippi Melanthonis, Ioannis Brenty, Arsaty Schoper, Leonardi Kulmanni Iodocy Wilichi ir isch kittu” (auf Deutsch: “Auslegung der Evangelien durch das ganze Jahr, stückweise ausgewählt aus mehreren Postillen, d. h. aus der Postille Nicolai Hemingii, Antonii Corvini, Ioannis Spangenbergii, Martini Lutheri, Philippi Melanthonis, Ioannis Brentii, Arsatii Schoper, Leonardi Kulmani, Iodocii Wilichi und aus den anderen”) besteht aus 72 Predigten über die Sonn- und Festtagsperikopen für den Advent- und Osterzyklus (29 Predigten Advent–Ostern [f. 1r–150v] und 43 Predigten Ostern–Advent [f. 151r–295v]). Als Entstehungsort der Handschrift ist Preußisch-Litauen (nach dem lateinischen Namen Lithuania Minor auch Kleinlitauen genannt), der litauischsprachige Teil des Herzogtums Preußen im Nordosten des Landes, wo im Zuge der Reformation die volkssprachige religiöse Bildung gefördert wurde, anzunehmen. Dieser seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts von Litauern besiedelte Teil des späteren Herzogtums Preußen (ab 1525) hatte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine rasch wachsende litauische Bevölkerung (u.a. in den Ämtern Ragnit, Insterburg, Tilsit, Memel, Labiau, Schaaken, Gumbinnen und Laukischken).

 

Der vermutlich in Königsberg angefertigte Holzeinband ist mit blindgepreßtem dunkelbraunem Kalbsleder bezogen und hat zwei Messing-Schließen. Der Buchschnitt ist rot gefärbt. Auf dem Vorderdeckel sind der Name des litauischen Pfarrers von Georgenburg Johannes Bielauk (ca. 1540–1603) und das Bindungsjahr 1574 eingepreßt. Auf dem Titelblatt ist das Autograph des litauischen Pfarrers von Szitkehmen (später von Kussen und Pillupönen) Michael Sappun aus Bartenstein (ca. 1553–1630) zu sehen. Er war ein späterer Besitzer und Benutzer der Postille. Die Inschrift auf dem Titelblatt unten in der Mitte stellt die abgekürzte Signatur “12 Manuscriptum” dar, die vermutlich aus einem Privatbesitz stammt.

 

Der ganze Text ist mit schwarzer Eisengallustinte ziemlich sauber geschrieben, man bemerkt allerdings beginnenden Tintenfraß. Die Blätter sind beidseitig eng beschrieben. Die voll beschriebenen Seiten zählen zwischen 33 und 40 Zeilen. Der Schriftspiegel schwankt in der Höhe zwischen 26,5 cm und 28 cm und in der Breite zwischen 15/15,5 cm und 16,5/17 cm.Die Hauptschrift der Postille ist die lateinische Antiqua. Die auf Deutsch geschriebenen Einwürfe sind in gotischer Kurrentschrift (Kursive) gehalten. Die Handschrift hat neben den Kustoden durch Buchstaben in alphabetischer Folge bezeichnete Lagensignaturen. Sie sind später als der Text selbst, kurz vor der Bindung entstanden. Vom Anfang bis f. 198 hat jede Lage zwei Doppelblätter (Binio [II]). Beginnend mit f. 198 bis zum Ende des Manuskripts besteht eine Lage aus vier Doppelblättern (Quaternio [IV]).

 

Die zwei Teile der Postille sind auf unterschiedlichem Papier geschrieben. Zwei verschiedene Wasserzeichen (Fisch) bezeugen, dass das Papier des Manuskriptes aus zwei Papiermühlen stammt. Das Wasserzeichen des ersten Teils (Vertikal ausgerichteter Fisch, 68 mm, Abstand zwischen den vertikalen Rippdrähten 29 mm; 76x) ist nicht bis in alle Einzelheiten erklärt. Ein identisches Wasserzeichen hat ein Dokument von 1580 aus der Sammlung der Nationalen Archive Finnlands (Kansallisarkisto, KA 1374, 1580, S. 31). Nils J Lindberg vermutet, dass solches Papier in Gdańsk (Polen) geschöpft werden konnte (Paper comes to the North. Sources and Trade Routes of Paper in the Baltic Sea Region 1350–1700, Marburg/Lahn, 1998, Nr. 381). Ein sehr ähnliches Wasserzeichen ist in einem in Litauen fertig gestellten handschriftlichen Dokument von 1573 zu finden (Bibliothek der Akademie der Wissenschafen Litauens, Archiv der Familie Römer: LMAB F138–1023). Das Wasserzeichen des zweiten Teils (Horizontal ausgerichteter Fisch unter den Buchstaben CG in einem Kreis, Durchmesser 43 mm, Abstand zwischen den vertikalen Rippdrähten 29 mm; 70x) findet sich auf Papier, das in den Siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts in Gdańsk und in Straszyn (Polen) produziert wurde. Der Fisch im Kreis mit den Buchstaben CG stellt das Wappen der Familie Glaubicz dar. Der Kanzler von Gdańsk Melchior Glaubicz eröffnete ca. 1570 in der Nähe von Straszyn eine Papiermühle. Die ähnlichsten Wasserzeichen hatten die Papiermühlen in Preußen (Schaaken, Elbing, Bromberg) und in Litauen (Kaunas, Vilnius) seit den Sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts (ca. 1566–ca. 1685). Dieses Wasserzeichen ist mit mehreren Unterschieden in Polen (Poznań, Inowratzław, ca. 1580) und auch in Königsberg (1584) zu finden.

 

Der auf Deutsch geschriebene Satz am Ende des ersten Teils (f. 150v27–28) zeugt davon, dass die Predigten des Adventszyklus am 2. September 1573 im Zeitraum von 3 Wochen und 2 Tagen “ausgeschrieben” wurden. Der zweite Teil muss frühestens nach dem im ersten Teil angegebenen Datum und spätestens innerhalb des Bindungsjahres (1574) entstanden sein. Die Wolfenbütteler Postille ist die von Johannes Bielauk stammende Abschrift. Als Abschreiber erhob er keinen Anspruch auf die Autorschaft und hinterließ seinen Namen nicht im Manuskript. Seine Kommentare beziehen sich auf Verschreibungen im Primärtext, die Bielauk getreu abschreibt und zu denen er in Klammern eigene Vorschläge gibt, die er auf Deutsch einführt, z. B. “heißt billig” (f. 39v28–29), “glaube ich sei besser” (f. 55v9–10). Die von einer Abschrift zeugenden Besonderheiten sind Fälle von Parablepsis: Zwei gleich oder ähnlich anfangende (homoiarchon) oder endende (homoeteleuton) Sätze bzw. Zeilen des Primärtextes werden leicht verwechselt, weil die Augen des Schreibers zwischen dem Originaltext und der Abschrift hin- und herwandern und sich deswegen automatisch auf gleich aussehendene Wörter fixieren. Die Parablepsis verursacht fehlerhafte Aussagen. Ein markantes Beispiel dafür ist der Satz 60r17–19, in dem zwei gleich endende Sätze über die göttlichen und menschlichen Besonderheiten Christus’ in einem Satz verknüpft sind (Erklärung zum Lk 2,52). Der Satz ergibt so einen theologischen Irrtum, der in einem Kommentar als “absurdum” bezeichnet wird. Auf Blatt 60r, neben dem Haupttext, sieht man zwei weitere Autographen. Die auf die Quelle dieser Predigt hinweisende Inschrift “Ex Hemingij postilla” stammt von Michael Sappun, der seinen Namen auf dem Titelblatt hinterließ. Der sachliche Kommentar zu dem fehlerhaften Satz stammt von dem Pfarrer von Kraupischken und später von Tilsit, Patroclus Welver (ca. 1555–1598). Kommentare und Verbesserungen von Sappun und Welver sind auf drei Sprachen – Latein, Deutsch und Litauisch – eingefügt. Nach dem Charakter der vielfältigen Korrekturen lässt sich feststellen, dass Welver die Handschrift früher als Sappun besaß bzw. für seine Predigten benutzte.

 

Dank der Bemerkungen Sappuns (im ersten Teil) und Bielauks selbst (im zweiten Teil) sind hinter 33 Predigten Autorennamen als Quellenangaben hinterlassen worden. Die Hauptquelle der litauischen Predigten des Adventszyklus war die lateinische Postille des dänischen Theologen Niels Hemmingsen (1513–1600). Er galt als “dänischer Luther” und war einer der bedeutendsten protestantischen Gelehrten. Allein im 16. Jahrhundert gab es sechzehn Editionen seiner Postille. Sie wurde in mehrere Sprachen übersetzt: Fünf deutsche (ab 1564), vier englische (ab 1569) und zwei dänische (ab 1576) Ausgaben sind bekannt. In dieser Hinsicht ist die litauische Übertragung als Beispiel der Kontextualisierung dieses Autors im litauischsprachigen Milieu anzusehen. Damit ist es klar, dass die litauische Übersetzung schon vor der dänischen existierte. Die lateinische Postille von Daniel Greser (1504–1591) war die Hauptquelle der litauischen Predigten des Osterzyklus. Der Name Greser wird auf dem Titelblatt der Wolfenbütteler Postille nicht erwähnt. Greser gehört offensichtlich zu den im Titel als “andere” bezeicheneten Vorlagen.

 

Neben den im Text selbst erwähnten Jahreszahlen (1547 [f. 6r32], 1561 [f. 6v1, f. 263r33], 1563 [f. 7r7]) und den Ersteditionen der Quellentexte (Hemmingsens Postille 1561; Gresers Postille 1567) kann die Reihenfolge der Predigten in der litauischen Postille Aufschluß über den terminus a quo des Primärtextes geben. Im Adventszyklus steht die Predigt Mariae Lichtmeß (2. Februar) zwischen den Predigten zum dritten und vierten Sonntag nach Epiphanias. Im Jahr 1566 fiel der 2. Februar zwischen diese beiden Sonntage, also zwischen den 27. Januar und den 3. Februar. Die Predigt Annunciatio Mariae (25. März) findet sich in der Postille zwischen den Predigten Laetare und Iudica. Ebenfalls im Jahr 1566 fiel der 25. März zwischen die Sonntage Laetare (24. März) und Iudica (31. März). Aus dieser Konstellation lässt sich schließen, dass der erste Teil für den Adventszyklus 1565–1566 angefertigt wurde. Der Primärtext des zweiten Teils, für den die Postille Gresers als Hauptquelle diente, wurde nicht früher als 1567 angefertigt.

 

Der Schwerpunkt der Ausstellung ist der Postille gewidmet, die in diesem Jahr 430 wird, in den Mittelpunkt rücken ihre Geschichte und ihre Quellen, nämlich den Postillen von Niels Hemmingsen, Daniel Greser, Johannes Brenz, Arsacius Seehofer, Antonius Corvinus, Johannes Spangenberg, Martin Luther, Leonhard Culmann, Philipp Melanchthon und Jodocus Willichius.

 

SPÄTERE GESCHICHTE DER HANDSCHRIFT

Die Postille war das erste litauische Buch, das Herzog August d. J. von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666) für seine Bibliothek 1648–1649 erwarb. Er trug sie persönlich in seinem Bücherradkatalog ein (S. 3686; Cod. Guelf. BA I, 325). Im 17. Jahrhundert wurde hinter dem Titel des litauischen Buches von einer unbekannten Hand dazugeschrieben, dass dies eine “böhmische” Postille sei. Der Autor dieser Ergänzung ist nicht bekannt. Im alphabetischen Katalog von Gottfried Wilhelm Leibniz, der 1690–1715 die Bibliothek leitete, ist die Postille zwei Mal registriert, nämlich unter “Hemmingius” und unter “Böhmische Postilla”.

 

Die litauische Postille scheint Jahrhunderte lang völlig vergessen worden zu sein. Erst im Jahr 1890 beschrieb Otto von Heinemann sie im Katalog Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel 2. Die Augusteischen Handschriften (Nr. 2123.). Der Chicagoer Professor Hans Schmidt-Wartenberg fand die Postille im August 1896 und machte den Königsberger Professor Adalbert Bezzenberger darauf aufmerksam. Im Bibliotheksarchiv finden sich Briefe und andere Dokumente, die bezeugen, dass am 20. November 1896 und erneut am 4. Juli 1898 die Handschrift mit einer Versicherung in Höhe von 600 Mark nach Königsberg geschickt wurde (Cod. Guelf. BA II, 225). Der litauische Theologe und später berühmte Historiker und Politiker Wilhelm Gaigalat (1870–1945) schrieb über sie eine Doktorarbeit. Seit dem Erscheinen seiner Dissertation Die Wolfenbütteler litauische postillenhandschrift aus dem Jahre 1573 (in: Mitteilungen der Litauischen litterarischen Gesellschaft, Heft 25.–27./28., 1900–1903) wird die Handschrift die Wolfenbütteler Postille genannt. In der Bibliothek wird ein Brief Gaigalats vom 5. Dezember 1899 aufbewahrt (Cod. Guelf. BA II, 71. 1)). Er bittet um Information über den Ursprung der Postille, über die Umstände ihres Gelangens nach Wolfenbüttel und über ihr Schicksal im Allgemeinen. Gaigalat sagt, dass er über “ihren Ursprung und über die Tatsache ihres Gelangens nach Wolfenbüttel aber so gut wie nichts habe ausfindig machen können und in der Bibliothek sich möglicherweise Nachrichten darüber vorfinden können”. Die genaue Entstehung der Postille, ihre Geschichte und ihr Weg nach Wolfenbüttel lässt sich bis jetzt noch nicht vollständig nachvollziehen.

 

Der Pastor zu St. Gertrud in Hamburg Georg Geisenhof bestellte die Handschrift am 22. Dezember 1898 für die Erstellung seiner Bibliographie von Antonius Corvinus’ Werken nach Hamburg (Cod. Guelf. BA II, 225). In der 1900 erschienenen Bibliotheca Corviniana Geisenhofs (in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, 5. Jahrgang, Braunschweig, 1900, S. 1–222) wird die litauische Postille wegen des darin vorkommenden Lieblingszitats von Corvinus “Non nobis Domine non nobis sed nomini tuo da gloriam” (Ps 114/115,1) beschrieben (S. 68–71). Weiterhin führte die Erwähnung der Postille durch Geisenhof dazu, dass das litauische Manuskript im Bereich der Melanchthonforschung beschrieben (Wilhelm Hammer, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, Heidelberg, 1968, Nr. 2878) und in den Katalog der Melanchthonhandschriften der Herzog August Bibliothek 1982 (S. 82) aufgenommen wurde.

 

WEITERE VERWANDTE ERWERBUNGEN

Herzog August erwarb die Bestände seiner Bibliothek keineswegs zufällig, vielmehr war seine Suche nach alten und neuerschienenen Schriften systematisch und gut organisiert. Sein Netzwerk von Bücheragenten deckte ganz Europa ab. Mit Hilfe dieser Mitarbeiter erfuhr er auch von kleineren und nicht in ganz Europa verbreiteten Sprachen und Schriften. Bekam er Bücher geschenkt, fragte er stets nach deren Hintergrund. Anhand der umfangreichen Korrespondenz Augusts mit seinen Bücheragenten und mit anderen Adligen läßt sich der Weg litauischer Bücher in die Bibliothek nachvollziehen.

 

Ein Beispiel dafür ist die erste litauische Grammatik Grammatica Litvanica (1653) von dem Pfarrer in Tilsit Daniel Klein (1609–1666) und ihre deutsche Zusammenfassung, das Compendium Litvanico-Germanicum (1654) (74. 4 Gram.). Anhand zweier in diesem Konvolut eingeklebter Briefe erfährt man, dass der Kurfürst von Brandenburg-Preußen, Friedrich Wilhelm (regierte 1640–1688), das Buch am 1. November 1662 Herzog August als Geschenk schickte. August wiederum schickte die litauische Grammatik an seinen Geheimrat, den Helmstedter Professor Hermann Conring, um mehr über sie zu erfahren. Der zweite im Konvolut eingeklebte Brief vom 10. November 1662 stammt von Conring. Er schreibt, dass er noch keine litauische Grammatik gesehen habe, und gibt eine kurze Erläuterung zur litauischen Sprache selbst, die er irrtümlich als der estnischen und finnischen Sprache nahe verwandt und als völlig getrennt von anderen europäischen Sprachen bezeichnet. Conring weist auf andere litauische Bücher hin: Auf eine “nicht unbekannte” Geschichte Litauens und auf eine litauische Bibel, die “im Auftrag Nicolai Radzevilii” veröffentlicht worden war. Die von Conring erwähnte Geschichte Litauens ist der erste 1650 veröffentlichte Teil des zweiteiligen Buches von Albertus Wiiuk-Koialowicz (1609–1677) Historia Litvana (der zweite Teil erschien 1669). Der Druck wurde für Herzog August durch den Augsburger Bücheragent Johann Georg Anckel besorgt (38. 5 Hist. [2]). Koialowicz’ Buch ist die erste Geschichte Litauens. Er widerspricht der früheren Theorie über die Abstammung der Litauer von den Römern und behauptet statt dessen, dass sie von den Goten abstammen. Damit schließt er sich der in Nordeuropa damals populären Theorie des Götizismus an. Die von Conring irrtümlich als litauisch bezeichnete Bibel wurde durch die Korrespondenz zwischen Herzog August und dem Geheimrat des Brandenburgischen Kurfürsten, Raban von Canstein (1617–1680), als polnisch identifiziert. Diese polnische Bibel wurde 1563 im Litauischen Brest (lit. Lietuvos Brasta, pol. BreśćLitewski) von der dortigen protestantischen Druckerei veröffentlicht und gilt heute als rarissimum (Bibel-S. 2o 209)). Der Kanzler und Landesmarschall des Großfürstentums Litauen, Woiwode von Vilnius und Statthalter in Livland Fürst Nikolaus Radzivilus der Schwarze (1515–1565) gründete im Jahr 1553 im Litauischen Brest (heute Weißrussland) eine protestantische Druckerei, mit der die zweite Welle des Protestantismus im Großfürstentum Litauen anfing (die erste Welle ging ca. 1540–1542 zu Ende). Die polnische Bibel wurde im Auftrag und auf Kosten von Radzivilus ediert. Diese Korrespondenzen Herzog Augusts beschreibt ausführlich Jacob Burckhard (1681–1752, ab 1738 Bibliothekar in Wolfenbüttel) im ersten Teil (1744) seiner Geschichte der Herzoglichen Bibliothek Wolfenbüttel Historia Bibliothecae Augustae (H 8o 819; S. 136–137).

 

Den Erwerb der litauischen Bibel hat August nicht mehr erlebt. Das Neue Testament und der Psalter, deren Übersetzung 1727–1728 von dem Königsberger Theologieprofessor Johann Jacob Quandt (1686–1772) geleitet und ediert wurde, ergänzten die Bestände der Bibliothek (Bibel-S. 828) kurz vor dem Tod der leidenschaftlichen Bibelsammlerin Herzogin Elisabeth Sophie Marie von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel (1683–1767). 1764 übergab sie ihre Kollektion von 1.100 Bibeln der Bibliothek.

 

Die Herzog August Bibliothek besitzt eine als Unikum überlieferte Edition des litauischen Gesang- und Gebetbuches von Daniel Klein Naujos Giesmju Knygos [...] Taipajeg Maldu Knygeles von 1666 (831. 16 Theol.). Insgesamt sind drei Exemplare bekannt (in Wolfenbüttel, Marburg/Lahn und Toruń). Das Titelblatt des Wolfenbütteler Exemplares ist 1667 datiert, Druckort und Verleger sind in deutscher Sprache angegeben. Andere Exemplare tragen das Datum von 1666 und nennen Druckort und Verleger in litauischer Sprache. Der Drucker Johann Reusner hat vermutlich das Titelblatt 1667 neu gedruckt, um das Buch als ein Geschenkexemplar vorzubereiten. Davon zeugt seine deutsche Widmung an den Kurfürsten von Brandenburg-Preußen Friedrich Wilhelm, die nur in diesem Exemplar zu finden ist. Ein weiteres Exemplar, das sich in Berlin befand, ging im Zweiten Weltkrieg verloren.

 

Ebenfalls unikal ist in der Herzog August Bibliothek aufbewahrte handschriftliche Sammlung Vitae theologorum Prussicorum von dem Pomesanischen Bischof Johann Wigand (1523–1587) (Cod. Guelf. 6. 5 Aug. 2o). Er fertigte die Biographien und Biogramme preußischer Theologen für Mathias Flaccius Illyricus’ (1520–1575) Kirchengeschichte Centuriae Magdeburgenses an. Seitdem das Königsberger Exemplar der Biogramme von Wigand verschollen ist, gilt das Wolfenbütteler Dokument als Unikat. In der Sammlung sind die Biogramme zweier litauischer Theologen überliefert. Herzog von Preußen, Albrecht von Hohenzollern (1490–1568), gewann zwei hochgebildete Litauer als Lehrkörper für das Königsberger Gymnasium (1541) und die Universität (1544). Der erste Rektor des Gymnasiums und der erste Gräcist der Universität war der litauische Adlige Abraham Culvensis (ca. 1509–1545). Nach dem Studium in Krakau (Kraków), Löwen (bei Erasmus), Wittenberg (bei Melanchthon) und Siena kehrte er nach Vilnius zurück, wo er mit Unterstützung der Königin Bona Sforza 1539 eine Schule gründete. Nachdem die Königin nach Polen umgezogen war, floh er 1542 nach Königsberg. Der erste Theologieprofessor der Königsberger Universität war ebenfalls ein litauischer Adliger, Stanislaus Rapagellanus (ca. 1485–1545). Er studierte in Krakau (Kraków), setzte danach sein Studium als Stipendiat des Herzogs Albrecht von Preußen in Wittenberg fort. Unter Martin Luthers Dekanat wurde er 1544 Doktor der Theologie.

 

Zwei bis jetzt unbeachtete handschriftliche Dokumente aus den Beständen der Herzog August Bibliothek zeugen von der religiösen Debatte, die am 14. Juni 1585 in Vilnius geführt wurde (Cod. Guelf. 11. 14 Aug. 2o). An diesem Tag versammelten sich die Theologen des Augsburgischen Bekenntnisses und die Anhänger der Lehre des Schweizers Ulrich Zwingli. Das Gespräch wurde vom Prakanzler und Landesmarschall des Großfürstentums Litauen, Woiwode von Vilnius Fürst Christophorus Radzivilus der Donner (1547–1603) geleitet.

 

Zu den jüngsten Funden in den Handschriften- und Bücherbeständen der Herzog August Bibliothek gehört eine Sammlung von Gelegenheitsgedichten, die Philipp Hainhofer (1578–1647) gewidmet ist. Hainhofer war diplomatischer Korrespondent und Kunstagent von Herzog Philipp II. (1573–1618) von Pommern-Stettin. Er war auch eifriger Bücher- und Kunstagent von Herzog August. 1617 fuhr Hainhofer nach Stettin, um Herzog Philipp II. persönlich den berühmten sog. Pommerschen Kunstschrank zu bringen. Am Ende seines Aufenthalts bekam er eine Gedichtsammlung von Gelehrten überreicht. Wie Hainhofer an Herzog August berichtete, waren die Gedichte auf 22 Sprachen geschrieben, u. a. auch auf Litauisch (Cod. Guelf. 83 Extrav.). Im gleichen Jahr wurde das Buch Carmina gratulatoria amicorum in felicissimum iter ediert (22. 6 Poet. 2o [2]). Die Texte sind auf Latein, Griechisch, Hebräisch, Syrisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Litauisch, Polnisch, Russisch, Schottisch, Spanisch und Tschechisch geschrieben. Hier findet sich (S. 59) ein achtzeiliges litauisches Gedicht, das von einem “Alexander Sulatycky, Nobilis Polonus” unterschrieben ist. Der Text ist allerdings entweder vom Sulatycky selbst oder von dem Verleger Georg Remus entstellt worden. Ein litauischer Text in einer polyglotten Sammlung aus dem frühen 17. Jahrhundert ist schon an sich als besonderes Phänomen zu betrachten. Die Wahl der Sprache wurde in solchen Sammlungen keineswegs durch Zufall getroffen, sondern wesentlich vom kulturellen Kontext des betreffenden Ereignisses und von den Interessen des Adressaten und des Adressanten mitbestimmt. Die Wirkungsgeschichte Hainhofers führt auch weiter zu verschiedenen Stammbüchern (auch Alben der Freunde oder Philotheken genannt) des 16. und 17. Jahrhunderts. In einem von mehreren Alben Hainhofers findet man einen Eintrag des litauischen Komponisten Stanislaus Casimirus Rudomina vom 11. Mai 1620 (Cod. Guelf. 210 Extrav.). Dessen bekannte Lebensdaten sind äußerst spärlich (studierte in Italien, komponierte hauptsächlich für Laute), deswegen ist sein Autograph und sein ebenfalls dort eingetragenes Wappen von großer Bedeutung. Nicht ohne “litauische” Spuren ist auch das Stammbuch Herzog Augusts (Cod. Guelf. 84. 6 Aug. 12o), in dem man eine französische Sentenz mit der Unterschrift des litauischen Fürsten Christophorus II. Radzivilus (1585–1640) findet. Vermutlich haben sich die beiden bei Herzog Mauritz von Oranien getroffen, als sie ihn 1603 besuchten.

 

 

Dr. Jolanta Gelumbeckaitė, Bearbeiterin des Projektes Edition und Kommentierung der Litauischen Postille von 1573: http://www.hab.de/forschung/de/postille.htm

 

 

Informationen: Die Ausstellung ist vom 11. März bis 25. Mai 2003 dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr im Kabinett der Bibliotheca Augusta (Lessingplatz 1, 38304 Wolfenbüttel) zu sehen. Tel.: 05331/808-214 (Samstag und sonntags: 808-112). http://www.hab.de

 

 


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