TITUS
Text collection: Kl.ahd.Dkm. 
Lesser Old High German Monuments
Text: Mers.Vw. 
Merseburger Zaubersprüche

Diplomatic edition of the texts
as contained in the manuscripts of the

Domstiftsbibliothek Naumburg
(Domplatz 16, 06618 Naumburg; 03445/202095)

together with images of the original manuscript pages,

kindly provided by the City of Merseburg,
electronically prepared by Rolf-Jürgen Jacob,
Neukirchen-Vluyn, 2001;
TITUS version by Jost Gippert,
Frankfurt a/M, 15.4.2002





Im Jahre 1841 machte der Historiker Dr. Waitz in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels einen sensationellen Fund: In einer theologischen Sammelschrift des 9./10. Jahrhunderts entdeckte er zwei alte germanische Zauberformeln. Er ahnte wohl die Bedeutung seiner Entdeckung, konnte aber noch nicht wissen, daß er auf die bis heute weltweit einzigen Schriftstücke "heidnischen" Inhalts in althochdeutscher Sprache gestoßen war. Zur Begutachtung legte Dr. Waitz das wertvolle Dokument Jakob Grimm vor, einem der beiden Brüder, die durch ihre Märchensammlung wertvollstes Volksgut erforschten und der Nachwelt erhalten haben. Dieser bewertete und würdigte die Zaubersprüche 1842 vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin mit den Worten: "Gelegen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige Bibliothek des Domkapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und genutzt worden. Ale sind an einem Codex vorbeigegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zu Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber, nach seinem ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod bilden wird, welchem die berühmten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben..." Damit wurden die Zauberformeln, die "Gedichte aus der Zeit des deutschen Heidentums", schlagartig unter Wissenschaftlern in aller Welt als die "Merseburger Zaubersprüche" bekannt.
Der erste Spruch beinhaltet die Befreiung von Gefangenen. Hier ist von Idisen (Kriegsgöttinnen, Walküren) die Rede, die sich auf dem Schlachtfeld niederließen und aufgrund ihrer besonderen Bestimmungen in das Kampfgeschehen eingriffen: Manche knüpften Fesseln (halfen, Feinde gefangen zu nehmen), andere hinderten das feindliche Heer am siegreichen Vordringen, und eine dritte Gruppe half gefangenen Kriegern, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Und so lautet der eigentliche Zauberspruch: Entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden!
Der zweite Zauberspruch bezieht sich auf die Heilung eines Pferdes durch germanische Götter: Sonnengott Balder (Phol) und der oberste der Götter, Wodan ritten durchs Holz (= Wald), wobei Balders Pferd stolperte und sich den Fuß verrenkte (oder brach?). Schließlich gelang es Wodan, den Schaden durch Besprechen zu heilen: "So Knochenverrenkung, wie Blutverrenkung, wie Gliedverrenkung: Bein (=Knochen) zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien!"



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This text is part of the TITUS edition of Merseburger Zaubersprueche.

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