Āśvalāyana-Śrautasūtra. Erstmalig vollständig übersetzt, erläutert und mit Indices versehen
von
Klaus Mylius. [Reihe Texte und Übersetzungen, 3] Institut für Indologie, Wichtrach
(Schweiz) 1994. 624 S. Price 360,- SFr. ISBN 3718700158. — Besprochen von
Jost
Gippert.
Mit dem hier anzuzeigenden Buch hat Klaus Mylius die erste vollständige Übersetzung des
zum R̥gveda gehörenden Āśvalāyana-Śrautasūtra ins Deutsche vorgelegt. Erstmalig publiziert wurde dabei allerdings nur ein geringerer Teil des Textes (Adhyāyas X-XII); die
ersten neun Abschnitte waren bereits zuvor, seit 1967, in verschiedenen Zeitschriften für
sich veröffentlicht worden
1. Wie Mylius selbst festhält (S. 13), wurden die früher erschienenen Teile für die Gesamtausgabe einer redaktionellen Glättung unterzogen, wodurch sich
jedoch „nicht alle durch die lange Zeitspanne bedingten Ungleichmäßigkeiten eliminieren“
ließen, zumal im Laufe der Bearbeitung insgesamt drei verschiedene Ausgaben zugrundegelegt wurden: Die
editio princeps von Rāmanārāyaṇa Vidyāratna (Nr. 49 der Bibliotheca
Indica, Calcutta 1874) für Adhyāya I-III, die Ausgabe von Gaṇeśa Śāstrī Gokhale (Bd. 81
der Ānandāśrama Sanskrit Series, Poona 1917) für Adhyāya IV-IV sowie die Neuedition
von Paṭṭābhirāma Śāstrī Padmabhūṣaṇa und Rāmanāthadīkṣita (Neu Delhi 1984-1985) ab
Adhyāya VII. Mylius räumt ein, daß etwaige sich hieraus ergebende Inkonsistenzen auch
die Register der Arbeit betreffen können, die nach den verschiedenen Ausgaben
„eingerichtet wurden“ (S. 14); in welchem Ausmaß sich dies tatsächlich ausgewirkt hat,
bleibt freilich offen, da eine Kollationierung der verschiedenen Ausgaben auch für die
jüngeren Teile offenbar nicht vorgenommen wurde.
Dem Autor ist sicher recht zu geben, wenn er „die Übersetzung eines
Śrautasūtra
eine
crux maxima der Indologie“ nennt, wobei es „nicht die Grammatik ist ..., die diese
Schwierigkeiten bereitet. Die Ursachen liegen vielmehr im
Sūtra-Stil und in der
Terminologie ... Die
Śrautasūtras (verstanden sich) nicht als sprachliches Vehikel
ausgefeilter Gedanken, sondern lediglich als eine mnemotechnische Stütze ..., indem sie
... wesentliche Kenntnisse des Benutzers voraussetzten“ (S. 14). Es ist nur folgerichtig,
wenn Mylius den auf diese Weise entstandenen „Telegrammstil“ „nicht nur aus
exegetischen Gründen, sondern oft um der bloßen Verständlichkeit willen“ in seiner
Übersetzung durch „Klammerausdrücke“ auszugleichen bestrebt ist, wobei die Kompetenz
eines Übersetzers zum Tragen kommt, der sich im Laufe seiner langjährigen Beschäftigung
mit dem altindischen Ritual „in die diversen Opferpraktiken und die ihnen
zugrundeliegenden Denkstrukturen minutiös eingearbeitet“ hat (S. 15); als flankierende
Information stand Mylius darüber hinaus der (über die genannten Ausgaben verfügbare)
Kommentar des Gārgya Nārāyaṇa („nach 850, aber lange vor 1100“: S. 14) zur Verfügung, dessen Meinung jedoch „nicht immer unbedingt das Richtige getroffen haben muß“,
da bis zu seinem Wirken selbst bereits „rund 1400 Jahre“ seit der mutmaßlichen
Abfassungszeit des Sūtras vergangen waren (S. 15).
Das Ergebnis des von Mylius gewählten Übersetzungsverfahrens ist in der Tat ein
deutscher Text, der nicht nur lesbar und verständlich ist, sondern auch ein klares Bild von
den Einzelheiten des Rituals vermittelt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Sūtra 6,14,13
lautet
sampraiṣavad ādeśān. Für sich genommen enthält diese Sentenz lediglich einen
Akk.pl.
ādeśān „Anweisungen“ und ein neutrales Adjektiv im Nom.Akk.sg.,
sampraiṣavad, das als Weiterbildung von
sampraiṣa- „Anordnung, Aufforderung“ zu gelten hat, also
etwa „nach Art der Anordnung“ bedeutet. In Mylius' Übersetzung sind dann sowohl das
den Akk.pl. regierende Prädikatsverb als auch der dazugehörende Agens ergänzt, wodurch
sich ein vollständiger Satz ergibt, der freilich seinerseits erst wieder im gegebenen Kontext
klar wird: „(Er gibt seine) Anweisungen wie bei den (im Tieropfer üblichen) Aufforderungen“, wobei sich „er“ auf den unmittelbar zuvor genannten
hotṛ beziehen müßte. Etwas
anders aufgelöst wird das folgende Sūtra
paśuvan nipātān (6,14,14), das Mylius mit
indefinitem Agens übersetzt: „(Man gebrauche) die beim Tieropfer üblichen Bezeichnungen“.
Es liegt auf der Hand, daß die Ansichten darüber divergieren können, welche impliziten
Bezüge in solchen Kontexten tatsächlich vorauszusetzen sind. So wäre es im gegebenen
Fall ebensogut denkbar und würde dem Parallelismus der beiden Sūtren vielleicht besser
gerecht, wenn man annähme, daß in beiden Fällen das gleiche Subjekt zu ergänzen ist,
wofür nach 6,14,12 sowohl der
hotṛ als auch die
adhvaryavas in Frage kommen (oder alle
beteiligten Priester gemeinsam). Zu berücksichtigen ist weiter, daß
sampraiṣavad in einem
anderen Ritualtext, dem zum Yajurveda gehörigen Śrautasūtra des Āpastamba, mehrfach
in der stehenden Wendung
saṃpraiṣavat kurvanti belegt ist
1, die nicht nur das mutmaßlich
zu ergänzende Prädikatsverb illustriert, sondern auch – mit W. Caland – eine einfache
Übersetzung „sie handeln, wie befohlen ist“, d.h. „entsprechend der Aufforderung“, nahelegt. Für
ĀśvŚS 6,14,13-14 bleibt dann zu überlegen, ob der formale Parallelismus der
beiden Sätze nicht auch einen inhaltlichen Hintergrund (im Sinne eines Gegensatzes) haben
könnte, was voraussetzen würde, daß
ādeśa- und
nipāta- hier gewissermaßen komplementär zu verstehen sein müßten; für das letztere Wort, das gemeinhin so viel wie „Sturz,
Fall“ bedeutet, an der gegebenen Belegstelle im
ĀśvŚS jedoch meist als „(zufällige) Erwähnung“ (im Sinne von „Fallenlassen“) aufgefaßt wird
2, erscheint jedenfalls „Bezeichnung“ als ein wenig prägnantes Äquivalent. Eine endgültige Entscheidung, wie die betr.
Stelle zu interpretieren ist, kann letztlich nicht aus dem Āśvalāyana-Śrautasūtra allein gewonnen werden, sondern lediglich aus textübergreifenden Studien, zu denen die Lektüre
von Klaus Mylius' Übersetzung den Leser immer wieder stimuliert.
Leider wird der insgesamt positive Eindruck, den das Werk macht, dadurch ein wenig
beeinträchtigt, daß es trotz eines eher bescheidenen Layouts (Paperback, Schreibmaschinentype)
3 zu einem geradezu präventiven Preis vertrieben wird. Der Verlag des Instituts für
Indologie in Wichtrach (Schweiz) sollte sich darüber im klaren sein, daß er mit einer derartigen Verkaufsstrategie gerade noch die großen Bibliotheken der westlichen Welt erreichen wird, nicht jedoch kleinere Fachbibliotheken oder gar private Indologenhaushalte; der
Verbreitung des Buches dürften somit enge Grenzen gesetzt sein.
Es bleibt festzuhalten, daß die interpretatorische Leistung, die der vorliegende Übersetzung zugrundeliegt, durch Marginalien der genannten Art nicht geschmälert wird. Mit
Klaus Mylius' Bearbeitung des Āśvalāyana-Śrautasūtra, die sich durchaus würdig an entsprechende Arbeiten Willem Calands und seiner Schüler anschließt, hat die deutschsprachige Tradition in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem vedischen Ritual
einen vielversprechenden neuen Anfang genommen.