PRÄLIMINARIEN ZU EINER
NEUAUSGABE DER OGAMINSCHRIFTEN
Jost Gippert
0.1. Ihre frühesten Sprachzeugnisse hat uns die keltische Bevölkerung der
britischen Inseln bekanntlich in einer Anzahl von Steininschriften hinterlassen, die in der sog. Ogamschrift gehalten sind. Der größte Teil dieser
Inschriften, von denen rund 300 hauptsächlich aus Südirland und Wales
bekannt sind, wird nach allgemeiner Ansicht in die Zeit zwischen dem 4.
oder 5. Jh. und dem 8. Jh. n. Chr. datiert. Bis heute ist weder die
Entstehung des eigentümlichen Ogamalphabets, das mit keinem anderen
Schriftsystem des gegebenen Zeitraums vergleichbar ist, noch die Bedeutung
aller Zeichen eindeutig geklärt. Üblicherweise werden die Ogambuchstaben
wie folgt interpretiert:
ᚁ ᚂ ᚃ ᚄ ᚅ ᚆ ᚇ ᚈ ᚉ ᚊ ᚋ ᚌ ᚍ ᚎ ᚏ ᚐ ᚑ ᚒ ᚓ ᚑᚒ
B L V S N H? D T C Q M G Ŋ? Z? R A O U E I
ᚕ ᚖ ᚘ ᚗ ᚙ K? θ? P? Φ? X?
Die Interpretation beruht einerseits auf einigen "bilingualen" Inschriften in
Ogam- und Lateinschrift, die vornehmlich in Südwales gefunden wurden,
andererseits auf den Angaben in mittelalterlichen Handschriften.
1 Die mit
einem Fragezeichen versehenen Zeichen kommen in den Inschriften nicht
oder zu selten für eine exakte Bestimmung vor;
2 die letzten fünf Buchstaben, die sog.
forfeda, bezeichnen nach den Handschriften auch die
Diphthonge EA, OI, IA, UI, AE. Trotz der Unklarheiten steht die Sprache
der Ogaminschriften als ein archaisches Irisch fest.
3 Die Steine kommemorieren fast ausschließlich Personen, deren Name zumeist mit patronymischen oder genealogischen Zusätzen im Genitiv genannt ist; ein typisches
Beispiel ist eine Inschrift aus Rockfield in Kerry /SW-Irland, die als
COILLABBOTAS MAQI CORBI MAQI MOCOI QERAI zu lesen ist, d.h.
"(Stein) des Coilub, des Sohnes des Corb, des Abkömmlings des Stammes
der Ciarraige".
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0.2. Als heute maßgebliche Ausgabe der Inschriften gilt der 1945 erschienene erste Band des "Corpus Inscriptionum Insularum Celticarum" von
R.A.S. Macalister,
5 der außer den eigentlichen Ogaminschriften auch "analogous inscriptions" in Lateinschrift aus Irland und Großbritannien umfaßt,
und der einige zuvor von Macalister selbst und von anderen Autoren vorgelegte Sammlungen ablöste.
6 Im folgenden will ich begründen, warum ich
nach intensiver Beschäftigung mit dem "Corpus" und dem darin enthaltenen
Material eine Neuausgabe für nötig halte, und die Aufgaben einer solchen
Neuausgabe und das methodische Vorgehen zur Diskussion stellen.
1. Kein Grund für eine Neuausgabe ergibt sich aus den Inschriften, die
erst nach dem Erscheinen von Macalisters "Corpus" aufgefunden wurden.
Es handelt sich z.B. um zwei 1953 bzw. 1954 in Kerry entdeckte Steine, die
erstmals von Michael O'Kelly und Séamus Kavanagh veröffentlicht wurden,
7
und die ich 1981 im Museum von Cork besichtigen konnte. Die beiden
Steine zeigen übrigens sehr deutlich, welche unterschiedlichen Ausprägungen
die Ogamschrift in Irland annehmen konnte: Während die Inschrift des
ersteren (aus Gearha South) in sehr schmalen, wie mit dem Messer
gezogenen Strichen und Kerben gehalten ist, zeigt der zweite (aus Church
Island) eher plumpe, breite Striche und Punkte;
8 ich komme auf diese
Problematik unten noch zu sprechen.
9 Keinen hinreichenden Grund für eine
Neuausgabe liefern auch äußerliche Veränderungen, die lediglich den
Bewahrungszustand bereits bekannter Steine betreffen; ich denke da z.B. an
den Stein von Defynnog in Südwales, der z.Zt von Macalister noch im Turm
der Dorfkirche eingemauert war,
10 den ich im Juli 1988 jedoch im Kircheneingang aufgestellt vorfand. Da Macalisters "Corpus" auf Vollständigkeit
angelegt war und die Zahl der Neufunde und der veränderten Bedingungen
relativ gering ist, könnte man sich in dieser Hinsicht mit einem Nachtrag
zufrieden geben.
2. Die Notwendigkeit einer Neuausgabe ergibt sich vielmehr aus den
zahlreichen methodischen Mängeln, die Macalisters "Corpus" aufzuweisen
hat. Auf solche Mängel wurde bereits bald nach dem Erscheinen des Werks
durch mehrere Rezensenten hingewiesen, unter denen Michael O'Kelly
11
und Kenneth Jackson
12 als die schärfsten Kritiker hervortraten; Jacksons
Resümee ist eindeutig: "the fact remains that the whole will have to be done
all over again".
13 Die wichtigsten Kritikpunkte, die in diesen Rezensionen
angesprochen wurden, kann ich inzwischen mit eigenem Material bestätigen,
das ich im Laufe von vier Exkursionen nach Irland, Wales und Schottland
gesammelt habe.
14
2.1. O'Kelly unterzog für seine Besprechung 30 zufällig ausgewählte
Steine in Südirland einer Autopsie, die ihn zu dem Ergebnis brachte, daß nur
in zwölf Fällen die bei Macalister gegebene Lesung zu bestätigen sei, in acht
Fällen eine Korrektur notwendig sei, während sich zehn Lesungen als
fragwürdig, aber nicht entscheidbar herausstellten. Dieses bedenkliche
Ergebnis liegt in der Natur der Sache begründet: Wie wohl kaum eine
andere Schrift rufen die Ogamzeichen, die auf den Kanten der Steine
angebracht und damit besonders stark zerstörenden Einflüssen von außen
ausgesetzt sind, unterschiedliche Interpretationen und Lesungen hervor; und
fast jede der im "Corpus" enthaltenen Inschriften hat im Laufe der Jahre
mehrere Lesungsversuche erfahren. Es wäre bei dieser Sachlage unabdingbar gewesen, deutlich zwischen allgemein anerkanntem und auf persönlicher Anschauung beruhendem Lesungsmaterial zu scheiden; bei Macalister
ist diese Scheidung unterblieben, die Lesungen anderer werden nur höchst
selten überhaupt erwähnt, meistens jedoch stillschweigend übergangen. Das
gilt bei Macalister auch für seine eigenen früheren Arbeiten, was schon K.
Jackson als Kuriosum festhielt. Jacksons Beispiel war ein Stein, der
zusammen mit mehreren anderen auf einem Feld bei Kilcoolaght in Kerry
gefunden wurde.
15 Im "Corpus" liest Macalister die Inschrift als ...]GGO
MAQI AGILL[... und konstatiert: "the older books show an A preceding the
double G, but I could not persuade myself of its existence"; zu den "older
books" gehört auch der zweite Band seiner "Epigraphy", wo er die Lesung
]aGGOMAQI AGILL[.. notierte.
16 In gleicher Weise verfährt Macalister
aber nicht nur bei der Lesung existierender Zeichen, sondern auch bei den
allfälligen Ergänzungen beschädigter Inschriften. Für einen auf dem Strand
von Ballinrannig in Corkaguiney, der westlichsten Halbinsel von Kerry,
stehenden Stein gibt Macalister die folgende Lesung:
17 CUNAMAQQI
CORBBI MAQQ[I MUCCOI DOVVINIA]S. Dabei ist die von ihm
bevorzugte Ergänzung durch eckige Klammern markiert. Dieselbe Ergänzung, die den auf anderen Steinen des Gebiets belegten und mit dem
"Genius loci" der Halbinsel Corca Dhuibhne identischen Namen DOVVINIAS zugrundelegt,
18 hatte Macalister in seiner früheren Sammlung heftig
bekämpft: Für den von E. Barry
19 als "mucoi Dovinias" restituierten
Stammesnamen sei nicht genügend Platz vorhanden, außerdem müßten
Reste des N vor dem S erhalten geblieben sein. Vielmehr sei anzunehmen,
daß alle Konsonanten vor dem S auf der H-Fläche gelegen hätten.
Macalisters eigene Lesung lautete damals vorsichtiger CUNAMAQQICORBBIMAQQ[i mucoi ....]AS.
20
2.2. Am gleichen Stein läßt sich auch eine weitere Eigenart Macalisters
aufzeigen, die ihm schon K. Jackson vorzuwerfen hatte: In vielen Fällen hat
es den Anschein, daß gerade der Teil einer Inschrift, wo die Stammeszugehörigkeit genannt wird, aufgrund mutwilliger Zerstörung beseitigt worden
ist; beim soeben behandelten Stein ist das der Teil nach dem zweiten
Eigennamen. Die in Macalisters "Corpus" zur Erklärung vorgebrachte
Theorie geht davon aus, daß die Stammesväter mit heidnischen Assoziationen
behaftet gewesen wären und ihre Erwähnung bei der Christianisierung bekämpft worden sei. Diese Theorie, die offenbar von J. MacNeill
aufgestellt worden war, von diesem selbst später jedoch wieder aufgegeben
wurde,
21 wird im "Corpus" geradezu exzessiv propagiert.
22 In seiner
"Epigraphy" hatte Macalister demgegenüber noch die Vermutung geäußert,
die mucoi-Formel sei hier und anderswo aufgrund von Stammesrivalitäten
zerstört worden; gerade DOVINIA- sei relativ oft erhalten, da der Stamm
der Duibne in Corkaguiney eben stark genug war, um sich durchzusetzen.
Ich halte diese Hypothese für wesentlich ansprechender, da sie im
Zusammenhang mit der (einen?) mutmaßlichen Verwendung der Ogamsteine als Grenzmarkierung völlig einleuchtet. Wie dem auch sei, für ein
"Corpus" der Ogaminschriften hätte in jedem Fall die Feststellung genügt,
daß eine Inschrift von einem bestimmten Punkt an zerstört ist.
2.3. Ein genereller Kritikpunkt Jacksons sind auch die Auswahlkriterien,
die Macalister seiner Sammlung zugrunde gelegt hat. Jackson bezieht sich
dabei vor allem auf die Scheidung zwischen früheren, den Ogaminschriften
"analogen", und späteren
Lateininschriften; ich möchte im gleichen
Zusammenhang auf die zahlreichen Fragmente und Bruchstücke verweisen,
die Macalister - meist als einziger - als Ogamsteine erkannt hat und die, mit
einer eigenen Nummer versehen, das "Corpus" über Gebühr anschwellen
lassen. Ein solcher Fall ist z.B. der Monolith "Maen Llia" in der Nähe von
Ystrad Fellte in Südwales: Macalister glaubte auf diesem Stein, den er "with
all reserve" in das "Corpus" einbezog, sowohl eine lateinische als auch eine
Ogaminschrift zu erkennen, die er mit "ROVEVI | S ...SOVI", bzw.
VASSO(G?)... wiedergab;
23 keine der beiden "Inschriften" kann jedoch
bestätigt werden, und so ist der Stein auch nicht in den Katalog der "Early
Christian Monuments of Wales" von V.E. Nash-Williams eingegangen.
24 Ein
anderer Fall, der zugleich geeignet ist, die Bedenken hinsichtlich der
Zuverlässigkeit des "Corpus" generell zu nähren, ist im Zusammenhang mit
dem bereits erwähnten Stein aus Kilcoolaght gegeben. Als ich das betreffende Feld, hinter dem ein alter Friedhof vermutet wird, im Juli 1981
besichtigte, klärte eine Tafel darüber auf, daß einer der dort aufgefundenen
Steine "einige Jahre vorher" gestohlen worden sei.
25 Eine Prüfung anhand
des "Corpus" ergab, daß es sich um den Stein mit der Nr. 208 handeln
mußte, für den keine Entsprechung aufzufinden war. Dieser Stein war laut
dem "Corpus" nur ein Fragment und trug die Inschrift UMALL.
26 Es stellte
sich nun heraus, daß von Macalisters Vorgängern, Brash und Ferguson,
keiner einen solchen Stein erwähnt hatte. Macalister selbst hatte in seiner
"Epigraphy" ein Fragment mit der Lesung ]DDAMU[coi verzeichnet, mit
dem offensichtlich dasselbe gemeint ist wie mit dem UMALL-Stück des
"Corpus"; man braucht nur die Leserichtung umzukehren:
27 vgl. ᚜ᚇᚇᚐᚋᚒ᚜
(DDAMU) und ᚜ᚒᚋᚐᚂᚂ᚜ (UMALL). Dieses Stück hatte Macalister fragend
mit einem anderen, bei Brash und Ferguson erwähnten Fragment mit den
Zeichen URG identifiziert.
28 Im "Corpus" wird nun ein Stein mit der Lesung
URG gesondert angeführt.
29
Es leuchtet natürlich nicht unmittelbar ein,
daß sich hinter den zwei Lesungen
UMALL und URG dieselbe Inschrift verbergen soll; dies zeigt
die schematische Wiedergabe
᚜ᚒ᚜ᚋᚐᚂ᚜ᚂ (U-MAL-L) und
᚜ᚒ᚜ᚏ᚜ᚌ᚜ (U-R-G), und auch
die Zeichnungen bei Brash (Abb.1)
und in "Epigraphy" (Abb. 2) sind
durchaus unterschiedlich.
30 Dennoch erhebt sich die
Frage, ob es das "gestohlene" Fragment überhaupt je gegeben hat, oder ob es
sich nicht vielmehr um einen "ghost-stone" handelt, der von Macalister selbst
aufgrund einer Unklarheit in seinen Aufzeichnungen "produziert" wurde.
Dafür spricht auch, daß der "UMALL-Stein" unter denen von Kilcoolaght der
einzige ist, der im "Corpus" ohne Angabe einer Größe und ohne eine
Zeichnung oder Skizze angeführt ist. Ob in Kilcoolaght tatsächlich ein Stein
gestohlen wurde, bleibt also fraglich.
31
2.4. Noch ein weiteres Fragment von dem Friedhof in Kilcoolaght
verdient unsere Beachtung bei einer Würdigung des "Corpus". Es handelt sich
um den Stein Nr. 207 des "Corpus", der nach Macalister als ....]ECC MAQI
L[UGUQ]RRIT zu lesen ist.
32 Auch hier geben die eckigen Klammern eine
Ergänzung an: Zu
erkennen sind ausschließlich die beiden
Enden eines G-Buchstabens auf der L-Seite. Nach der im
"Corpus"
abgedruckten
Skizze (Abb. 3) wäre
zwischen dem L und
dem G genügend Platz für ein U; diese Restituierung wird jedoch unwahrscheinlich, wenn man die übrigen Vokalzeichen und den von ihnen
eingenommenen Raum betrachtet: Dann kommt als "Ergänzung" allenfalls
éin Vokalpunkt in Frage, also ein "A". Macalister hätte hier auf seine eigene
Skizze in "Epigraphy" zurückgreifen sollen, die die betreffende Stelle wesentlich korrekter zeigt (Abb. 4); hier las der Autor allerdings kein G, sondern
ein O: ...ve]CCMAQILon�gRIT[ .
33
Im "Corpus" gibt Macalister dann auch
den entscheidenden
Grund für seine neue
Rekonstruktion an: "The
extreme top is flaked,
carrying off the scores
dotted in the diagram:
but these can be restored
with security,
for there is
no reasonable room for
doubt as to what the
name must have been".
34
Da keinerlei Anhaltspunkte dafür existieren,
wieviel von der Inschrift
an der gegebenen Stelle
abgebrochen ist, ist die "Ergänzung" LUGUQRRIT vielmehr völlig aus der
Luft gegriffen (vgl. Abb. 5: Foto J.G., 1981).
2.5. Die Gefahr, die in Macalisters Darstellungsweise liegt, kann am besten
an einem vor kurzem erschienenen Buch zum Thema aufgezeigt werden: es
handelt sich um A.A. Korolev, Drevnejšie pamjatniki irlandskogo jazyka,
Moskva 1984. Dieses Buch ist der erste Versuch einer vollständigen
linguistischen Auswertung der Ogaminschriften.
35 Da der sovjetische Autor
selbst offenbar keine Möglichkeit einer Autopsie hatte, war er voll und ganz
auf das im "Corpus" und in sonstiger ihm greifbarer Sekundärliteratur
niedergelegte Material angewiesen. So wurden nicht nur Irrtümer übernommen, wie in dem Fall des eingangs erwähnten Steines aus Rockfield / Kerry,
auf dem Macalister ein zweites B in den Namen CORBBI hineingelesen
hat: seine Lesung lautete COILLABBOTAS MAQI CORBBI MAQI
MOCOI QERAI (vgl. Abb. 6, die Skizze im "Corpus", und Abb. 7, Foto J.G., 1978).
36 Es entstanden
vielmehr auch neue Irrtümer wie bei einem Stein
aus Houseland / Wexford.
Dieser Stein, der inzwischen übrigens im National
Museum in Dublin aufbewahrt wird, war nach Macalister in drei Teile zerbrochen, von denen nur
zwei ans Licht gekommen
sind; bei Korolev sind es
vier Teile, von denen drei
gefunden wurden.
37 Eine
Inschrift aus Ballyknock /
Cork, die Macalister als "difficult to decipher" bezeichnete, und von der er
meinte, "that the inscription was made as inconspicuous as possible, presumably to evade hostile observation", wird bei Korolev schlicht als "Inschrift in
gutem Zustand" apostrophiert.
38 Von Macalisters Lesung DRUTIQULI
MAQI MAQI RODAGNI kann ich nur wenige Buchstaben(teile) bestätigen:
᚜ᚌ᚜᚜ᚈᚒᚊᚑᚂ᚜᚜᚜ᚊ᚜᚜᚜ᚊ᚜᚜ᚏᚑᚑᚐᚑᚅᚔ᚜ ;
der Versuch einer Interpretation erübrigt sich.
3. Was also muß eine Neuausgabe leisten? Aus dem bisher gesagten
dürfte deutlich geworden sein, daß zunächst eine
Autopsie aller Steine
unumgänglich ist. Diese Autopsie sollte möglichst von
mehreren Fachleuten
durchgeführt werden, damit die zu erwartenden unterschiedlichen Auffassungen diskutiert werden können. An die Neuausgabe sind aber auch höhere
Ansprüche in bezug auf die
Darstellung und die
Auswertung zu stellen.
3.1. Bei der Wiedergabe muß deutlicher geschieden werden zwischen der
Lesung und der Interpretation; einfache Wiedergaben in Lateinschrift, wie
sie Macalisters "Corpus" bietet, sind (auch bei der Verwendung von
Klammern) viel zu suggestiv! Im Falle der "LUGUQRRIT"-Inschrift aus
Kilcoolaght muß z.B. deutlich werden, daß vor dem CC nur zwei Vokalpunkte vorhanden sind; daß die beiden Schrägstriche hinter dem L als O
oder als untere Enden eines G gelesen werden können; daß nicht klar ist,
ob hinter dem O bzw. G weitere Buchstaben folgten; daß von dem ersten
R nur drei, höchstens vier Striche erkennbar sind; daß nicht klar ist,
wieviele Zeichen dem R vorausgingen und hinter dem angenommenen T
folgten; und letztlich, daß die Leserichtung lediglich auf éiner Kante,
nämlich durch das Wort MAQI, mit großer Sicherheit bestimmbar ist.
39
Dies alles kann weniger umständlich nur in Ogamschrift selbst wiedergegeben werden. Eine "offene" Wiedergabe könnte etwa wie folgt aussehen:
]ᚑᚋᚐᚊᚔᚂ[ ]ᚌ[ | ]ᚃᚔᚏᚍ[
Daran anschließen müßte sich eine Interpretation der einzelnen Kanten, die
die gegebenen Möglichkeiten aufzeigt:
O O O O
] U M A Q I L [ ] G [ bzw. ] U M A N I D [ ] G [
E E
I I
und
T Ŋ V Ŋ
] C I R Z [ bzw. ] S I R Z [
Q R N R
Es ist bezeichnend, daß Macalister selbst eine ähnliche Darstellungsweise in
seiner "Epigraphy" noch vorgezogen hat.
3.2. Ferner muß die Dokumentation in einem möglichst hohen Maße
durch fotografische Abbildungen unterstützt werden, da auch die Verwendung von Zeichnungen, wie wir gesehen haben, zu leicht subjektive und
suggestive Züge mit sich bringt; die angebotene Lesung muß dem Benutzer
anhand der Bilder nachvollziehbar sein.
40
3.3. Eine Neuausgabe sollte über die reine Dokumentation hinaus aber
auch Hilfsmittel für eine Auswertung der Daten bieten. Dies betrifft
zunächst die Schaffung einer Typologie, die die äußeren und inneren Daten
in Übereinstimmung zu bringen versucht. Mit den äußeren Daten sind
zunächst die Form des Steins, dann die Anlage der Inschrift auf ihm und,
nicht zuletzt, die Form der Zeichen selbst gemeint; ich erinnere z.B. an die
beiden neu gefundenen Steine im Museum von Cork, die sich in allen drei
Punkten wesentlich unterscheiden. Mit den "inneren" Daten meine ich die
linguistischen Gegebenheiten. Die Inschriften stammen bekanntlich aus
einem Zeitraum, in dem sich in der irischen Sprachgeschichte die wichtigsten lautlichen Veränderungen wie Apokope und Synkope vollzogen haben,
und sie alle spiegeln sich in den Inschriften wieder.
41 Indem die äußeren
und inneren Daten aufeinander bezogen werden, läßt sich evtl. eine
Chronologisierung im Sinne einer Paläographie erzielen.
3.4. Die Neuausgabe sollte meines Erachtens auch nicht davor zurückschrecen, wie es Macalister in seinem "Corpus" tat, nach Verbindungen
zwischen in den Inschriften und in sonstigen Quellen genannten Personen
zu suchen.
42 Dies setzt natürlich eine umfassende Auswertung der zur
Verfügung stellenden Materialien zumeist genealogischer Art voraus. Auf
der gleichen Ebene läge eine Einbeziehung toponymischer Daten, wie sie
etwa im Falle des Namenspatrons von Corkaguiney erfolgreich war.
4. Die dringendste Aufgabe, die im Vorfeld zu lösen wäre, ist die
Sicherung des Materials. Während nämlich die Ogamsteine in Wales
weitestgehend in der Obhut von Museen oder Kirchen sind,
43 stehen in
Irland noch immer viel zu viele Steine auf dem freien Land und sind damit
allen schädlichen Einflüssen von außen ausgesetzt.
4.1. Dies läßt sich z.B. an dem oben
erwähnten Stein vom Strand von Ballinrannig demonstrieren: Der Stein, den ich
zum ersten Mal 1978 in Augenschein nehmen konnte, war bei einer zweiten Besichtigung 1981 beinahe umgefallen;
44 damit
nicht genug, wurde er von Campern auch
als geeigneter Schutz für ihre Notdurften
benutzt. Der Stein von Emlagh East (ebenfalls in Corkaguiney), der als der erste in
Irland entdeckte Ogamstein überhaupt
gelten kann,
45 liegt zur Zeit auf einem
gemauerten Podest ca. 20 cm über der
Wasseroberfläche; auch diese Position ist
der Erhaltung der Inschrift wohl kaum
zuträglich (vgl. Abb. 8: Foto J.G., 1978).
Ein Stein aus der Umgebung von Cork, der
zu Macalisters Zeit noch als Türpfeiler in
einer Scheune diente, sollte bei meiner
Besichtigung im Jahre 1981 gerade beseitigt werden, nachdem die Scheune abgerissen worden war; ich konnte ihn mit den Exkursionsteilnehmern nur mit Mühe
aus einem Schutthaufen bergen.
46 Um eine sichere Lesung herbeizuführen, hätte der Stein vollständig gereinigt werden müssen, wozu uns
jedoch die nötigen Materialien fehlten.
47
4.2. Nicht nur wegen der Materialsicherung halte ich es für geboten,
solche Steine, die sich ganz oder teilweise in der Erde befinden, auszugraben; wie sich zeigen läßt, ist dabei nämlich auch noch neues Material zu
gewinnen. Es handelt sich zum einen um solche Steine, die als Abdeckungen
in den frühgeschichtlichen Souterrains benutzt wurden, und die nur zum
Teil überhaupt bekannt sind.
48 Ich konnte bisher zwei solcher Souterrains
betreten; dabei war jedoch jeweils nur einer der verzeichneten Steine
zugänglich.
49 Das Ausgraben kann sich aber auch bei solchen Steinen
lohnen, die nur teilweise in der Erde verborgen sind. Der einzige bisher
bekannte Ogamstein der irischen County Leitrim, in Cloonmorris, wurde zu
Macalisters Zeit als Grabstein benutzt;
50 Macalister las auf der rechten
Kante des Steins (abwärts) QENUVEN, auf der linken Kante die Buchstaben G und TT (vgl. seine Skizze, Abb. 9).
Vor meiner Besichtigung 1978
hatte man den Stein nun gehoben und an der Mauer
des Friedhofs drapiert. Dabei war er gegenüber
seiner im "Corpus" verzeichneten Stellung um 180
Grad gedreht worden, vermutlich, weil er sich so
besser aufstellen ließ. Eine neben dem Stein angebrachte Tafel gibt Macalisters Lesung entsprechend
wieder. Anscheinend blieb jedoch unbemerkt, daß
auf der nunmehr obenliegenden Kante ein neuer
Teil der Inschrift zum Vorschein gekommen ist, der
die Lücke zwischen der linken und rechten Kante
schließt; es handelt sich um die drei deutlich zu
erkennenden Buchstaben ᚊᚔᚈ. Im Gesamtzusammenhang läßt sich annehmen, daß sich dahinter
das Ende des Wortes MAQI und der Anfang eines
folgenden Patronyms verbirgt, wodurch sich eine
eindeutige Leserichtung ergibt. Die Inschrift ist nunmehr wie folgt wiederzugeben:
ᚊᚓᚅᚑ᚜᚜ᚅ᚜᚜᚜᚜᚜᚜|ᚊᚔᚈ|᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜ᚌ᚜ᚈᚆ᚜᚜᚜
Dies ergibt in der wahrscheinlichen Leserichtung die Interpretation
T H
QENO EN |QI C| G T D
Q T
C
Q.
Schon bei der Erstveröffentlichung der Inschrift hatte J. MacNeill eine
Restituierung in der Form "Qenuvin[di], or more probably the derivative
form Qenuvin[dagni]" erwogen.
51 Aufgrund des jetzt bestimmbaren
Freiraumes ist die zweite Lösung unbedingt vorzuziehen; damit ergibt sich
für den Anfang der Inschrift eine Rekonstruktion in der Form *QENOVEN(D)AGNI MAQI ..., d.h. "(Stein des) Cenannán, Sohnes des ...".
52
4.3. Angesichts der hier aufgezeigten Umstände möchte ich mit einem
Appell schließen, den ich wörtlich von dem Herausgeber des "Corpus"
übernehmen kann; die Forderung, die Macalister schon 1914 an die Irische
Akademie richtete, lautete "to make representations to the responsible local
officials, and to secure that these ancient monuments be deposited, if only
on loan, in the Museum. One Ogham stone which formerly stood in the
cemetery of Killen Cormac has been smashed to supply materials for the
wall that surrounds it. At any moment the valuable monuments that remain
may meet the same fate."
53