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Dies ist eine Internet-Sonderausgabe des Aufsatzes
„Präliminarien zu einer Neuausgabe der Ogaminschriften“
von Jost Gippert (1988).
Sie sollte nicht zitiert werden. Zitate sind der Originalausgabe in
„Britain 400-600: Language and History“,
ed. A. Bammesberger / A. Wollmann,
Heidelberg 1990, 291-304
zu entnehmen.

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This is a special internet edition of the article
„Präliminarien zu einer Neuausgabe der Ogaminschriften“
[„Preliminaries of a new edition of Ogam inscriptions“]
by Jost Gippert (1988).
It should not be quoted as such. For quotations, please refer to the original edition in
„Britain 400-600: Language and History“,
ed. A. Bammesberger / A. Wollmann,
Heidelberg 1990, pp. 291-304.



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Jost Gippert, Frankfurt 1999-2001





PRÄLIMINARIEN ZU EINER

NEUAUSGABE DER OGAMINSCHRIFTEN



Jost Gippert



0.1.       Ihre frühesten Sprachzeugnisse hat uns die keltische Bevölkerung der britischen Inseln bekanntlich in einer Anzahl von Steininschriften hinterlassen, die in der sog. Ogamschrift gehalten sind. Der größte Teil dieser Inschriften, von denen rund 300 hauptsächlich aus Südirland und Wales bekannt sind, wird nach allgemeiner Ansicht in die Zeit zwischen dem 4. oder 5. Jh. und dem 8. Jh. n. Chr. datiert. Bis heute ist weder die Entstehung des eigentümlichen Ogamalphabets, das mit keinem anderen Schriftsystem des gegebenen Zeitraums vergleichbar ist, noch die Bedeutung aller Zeichen eindeutig geklärt. Üblicherweise werden die Ogambuchstaben wie folgt interpretiert:

ᚁ      ᚂ      ᚃ      ᚄ      ᚅ            ᚆ      ᚇ      ᚈ      ᚉ      ᚊ            ᚋ      ᚌ      ᚍ      ᚎ      ᚏ      ᚐ      ᚑ      ᚒ      ᚓ      ᚑᚒ
B      L      V      S      N            H?      D      T      C      Q            M      G      Ŋ?      Z?      R      A      O      U      E      I

                              ᚕ      ᚖ      ᚘ      ᚗ      ᚙ      K?      θ?      P?      Φ?      X?

Die Interpretation beruht einerseits auf einigen "bilingualen" Inschriften in Ogam- und Lateinschrift, die vornehmlich in Südwales gefunden wurden, andererseits auf den Angaben in mittelalterlichen Handschriften.1 Die mit einem Fragezeichen versehenen Zeichen kommen in den Inschriften nicht oder zu selten für eine exakte Bestimmung vor;2 die letzten fünf Buchstaben, die sog. forfeda, bezeichnen nach den Handschriften auch die Diphthonge EA, OI, IA, UI, AE. Trotz der Unklarheiten steht die Sprache der Ogaminschriften als ein archaisches Irisch fest.3 Die Steine kommemorieren fast ausschließlich Personen, deren Name zumeist mit patronymischen oder genealogischen Zusätzen im Genitiv genannt ist; ein typisches Beispiel ist eine Inschrift aus Rockfield in Kerry /SW-Irland, die als COILLABBOTAS MAQI CORBI MAQI MOCOI QERAI zu lesen ist, d.h. "(Stein) des Coilub, des Sohnes des Corb, des Abkömmlings des Stammes der Ciarraige".4
0.2.       Als heute maßgebliche Ausgabe der Inschriften gilt der 1945 erschienene erste Band des "Corpus Inscriptionum Insularum Celticarum" von R.A.S. Macalister,5 der außer den eigentlichen Ogaminschriften auch "analogous inscriptions" in Lateinschrift aus Irland und Großbritannien umfaßt, und der einige zuvor von Macalister selbst und von anderen Autoren vorgelegte Sammlungen ablöste.6 Im folgenden will ich begründen, warum ich nach intensiver Beschäftigung mit dem "Corpus" und dem darin enthaltenen Material eine Neuausgabe für nötig halte, und die Aufgaben einer solchen Neuausgabe und das methodische Vorgehen zur Diskussion stellen.
1.       Kein Grund für eine Neuausgabe ergibt sich aus den Inschriften, die erst nach dem Erscheinen von Macalisters "Corpus" aufgefunden wurden. Es handelt sich z.B. um zwei 1953 bzw. 1954 in Kerry entdeckte Steine, die erstmals von Michael O'Kelly und Séamus Kavanagh veröffentlicht wurden,7 und die ich 1981 im Museum von Cork besichtigen konnte. Die beiden Steine zeigen übrigens sehr deutlich, welche unterschiedlichen Ausprägungen die Ogamschrift in Irland annehmen konnte: Während die Inschrift des ersteren (aus Gearha South) in sehr schmalen, wie mit dem Messer gezogenen Strichen und Kerben gehalten ist, zeigt der zweite (aus Church Island) eher plumpe, breite Striche und Punkte;8 ich komme auf diese Problematik unten noch zu sprechen.9 Keinen hinreichenden Grund für eine Neuausgabe liefern auch äußerliche Veränderungen, die lediglich den Bewahrungszustand bereits bekannter Steine betreffen; ich denke da z.B. an den Stein von Defynnog in Südwales, der z.Zt von Macalister noch im Turm der Dorfkirche eingemauert war,10 den ich im Juli 1988 jedoch im Kircheneingang aufgestellt vorfand. Da Macalisters "Corpus" auf Vollständigkeit angelegt war und die Zahl der Neufunde und der veränderten Bedingungen relativ gering ist, könnte man sich in dieser Hinsicht mit einem Nachtrag zufrieden geben.
2.       Die Notwendigkeit einer Neuausgabe ergibt sich vielmehr aus den zahlreichen methodischen Mängeln, die Macalisters "Corpus" aufzuweisen hat. Auf solche Mängel wurde bereits bald nach dem Erscheinen des Werks durch mehrere Rezensenten hingewiesen, unter denen Michael O'Kelly11 und Kenneth Jackson12 als die schärfsten Kritiker hervortraten; Jacksons Resümee ist eindeutig: "the fact remains that the whole will have to be done all over again".13 Die wichtigsten Kritikpunkte, die in diesen Rezensionen angesprochen wurden, kann ich inzwischen mit eigenem Material bestätigen, das ich im Laufe von vier Exkursionen nach Irland, Wales und Schottland gesammelt habe.14
2.1.       O'Kelly unterzog für seine Besprechung 30 zufällig ausgewählte Steine in Südirland einer Autopsie, die ihn zu dem Ergebnis brachte, daß nur in zwölf Fällen die bei Macalister gegebene Lesung zu bestätigen sei, in acht Fällen eine Korrektur notwendig sei, während sich zehn Lesungen als fragwürdig, aber nicht entscheidbar herausstellten. Dieses bedenkliche Ergebnis liegt in der Natur der Sache begründet: Wie wohl kaum eine andere Schrift rufen die Ogamzeichen, die auf den Kanten der Steine angebracht und damit besonders stark zerstörenden Einflüssen von außen ausgesetzt sind, unterschiedliche Interpretationen und Lesungen hervor; und fast jede der im "Corpus" enthaltenen Inschriften hat im Laufe der Jahre mehrere Lesungsversuche erfahren. Es wäre bei dieser Sachlage unabdingbar gewesen, deutlich zwischen allgemein anerkanntem und auf persönlicher Anschauung beruhendem Lesungsmaterial zu scheiden; bei Macalister ist diese Scheidung unterblieben, die Lesungen anderer werden nur höchst selten überhaupt erwähnt, meistens jedoch stillschweigend übergangen. Das gilt bei Macalister auch für seine eigenen früheren Arbeiten, was schon K. Jackson als Kuriosum festhielt. Jacksons Beispiel war ein Stein, der zusammen mit mehreren anderen auf einem Feld bei Kilcoolaght in Kerry gefunden wurde.15 Im "Corpus" liest Macalister die Inschrift als ...]GGO MAQI AGILL[... und konstatiert: "the older books show an A preceding the double G, but I could not persuade myself of its existence"; zu den "older books" gehört auch der zweite Band seiner "Epigraphy", wo er die Lesung ]aGGOMAQI AGILL[.. notierte.16 In gleicher Weise verfährt Macalister aber nicht nur bei der Lesung existierender Zeichen, sondern auch bei den allfälligen Ergänzungen beschädigter Inschriften. Für einen auf dem Strand von Ballinrannig in Corkaguiney, der westlichsten Halbinsel von Kerry, stehenden Stein gibt Macalister die folgende Lesung:17 CUNAMAQQI CORBBI MAQQ[I MUCCOI DOVVINIA]S. Dabei ist die von ihm bevorzugte Ergänzung durch eckige Klammern markiert. Dieselbe Ergänzung, die den auf anderen Steinen des Gebiets belegten und mit dem "Genius loci" der Halbinsel Corca Dhuibhne identischen Namen DOVVINIAS zugrundelegt,18 hatte Macalister in seiner früheren Sammlung heftig bekämpft: Für den von E. Barry19 als "mucoi Dovinias" restituierten Stammesnamen sei nicht genügend Platz vorhanden, außerdem müßten Reste des N vor dem S erhalten geblieben sein. Vielmehr sei anzunehmen, daß alle Konsonanten vor dem S auf der H-Fläche gelegen hätten. Macalisters eigene Lesung lautete damals vorsichtiger CUNAMAQQICORBBIMAQQ[i mucoi ....]AS.20
2.2.       Am gleichen Stein läßt sich auch eine weitere Eigenart Macalisters aufzeigen, die ihm schon K. Jackson vorzuwerfen hatte: In vielen Fällen hat es den Anschein, daß gerade der Teil einer Inschrift, wo die Stammeszugehörigkeit genannt wird, aufgrund mutwilliger Zerstörung beseitigt worden ist; beim soeben behandelten Stein ist das der Teil nach dem zweiten Eigennamen. Die in Macalisters "Corpus" zur Erklärung vorgebrachte Theorie geht davon aus, daß die Stammesväter mit heidnischen Assoziationen behaftet gewesen wären und ihre Erwähnung bei der Christianisierung bekämpft worden sei. Diese Theorie, die offenbar von J. MacNeill aufgestellt worden war, von diesem selbst später jedoch wieder aufgegeben wurde,21 wird im "Corpus" geradezu exzessiv propagiert.22 In seiner "Epigraphy" hatte Macalister demgegenüber noch die Vermutung geäußert, die mucoi-Formel sei hier und anderswo aufgrund von Stammesrivalitäten zerstört worden; gerade DOVINIA- sei relativ oft erhalten, da der Stamm der Duibne in Corkaguiney eben stark genug war, um sich durchzusetzen. Ich halte diese Hypothese für wesentlich ansprechender, da sie im Zusammenhang mit der (einen?) mutmaßlichen Verwendung der Ogamsteine als Grenzmarkierung völlig einleuchtet. Wie dem auch sei, für ein "Corpus" der Ogaminschriften hätte in jedem Fall die Feststellung genügt, daß eine Inschrift von einem bestimmten Punkt an zerstört ist.
2.3.       Ein genereller Kritikpunkt Jacksons sind auch die Auswahlkriterien, die Macalister seiner Sammlung zugrunde gelegt hat. Jackson bezieht sich dabei vor allem auf die Scheidung zwischen früheren, den Ogaminschriften "analogen", und späteren Lateininschriften; ich möchte im gleichen Zusammenhang auf die zahlreichen Fragmente und Bruchstücke verweisen, die Macalister - meist als einziger - als Ogamsteine erkannt hat und die, mit einer eigenen Nummer versehen, das "Corpus" über Gebühr anschwellen lassen. Ein solcher Fall ist z.B. der Monolith "Maen Llia" in der Nähe von Ystrad Fellte in Südwales: Macalister glaubte auf diesem Stein, den er "with all reserve" in das "Corpus" einbezog, sowohl eine lateinische als auch eine Ogaminschrift zu erkennen, die er mit "ROVEVI | S ...SOVI", bzw. VASSO(G?)... wiedergab;23 keine der beiden "Inschriften" kann jedoch bestätigt werden, und so ist der Stein auch nicht in den Katalog der "Early Christian Monuments of Wales" von V.E. Nash-Williams eingegangen.24 Ein anderer Fall, der zugleich geeignet ist, die Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit des "Corpus" generell zu nähren, ist im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Stein aus Kilcoolaght gegeben. Als ich das betreffende Feld, hinter dem ein alter Friedhof vermutet wird, im Juli 1981 besichtigte, klärte eine Tafel darüber auf, daß einer der dort aufgefundenen Steine "einige Jahre vorher" gestohlen worden sei.25 Eine Prüfung anhand des "Corpus" ergab, daß es sich um den Stein mit der Nr. 208 handeln mußte, für den keine Entsprechung aufzufinden war. Dieser Stein war laut dem "Corpus" nur ein Fragment und trug die Inschrift UMALL.26 Es stellte sich nun heraus, daß von Macalisters Vorgängern, Brash und Ferguson, keiner einen solchen Stein erwähnt hatte. Macalister selbst hatte in seiner "Epigraphy" ein Fragment mit der Lesung ]DDAMU[coi verzeichnet, mit dem offensichtlich dasselbe gemeint ist wie mit dem UMALL-Stück des "Corpus"; man braucht nur die Leserichtung umzukehren:27 vgl. ᚜ᚇᚇᚐᚋᚒ᚜ (DDAMU) und ᚜ᚒᚋᚐᚂᚂ᚜ (UMALL). Dieses Stück hatte Macalister fragend mit einem anderen, bei Brash und Ferguson erwähnten Fragment mit den Zeichen URG identifiziert.28 Im "Corpus" wird nun ein Stein mit der Lesung URG gesondert angeführt.29

 

Es leuchtet natürlich nicht unmittelbar ein, daß sich hinter den zwei Lesungen UMALL und URG dieselbe Inschrift verbergen soll; dies zeigt die schematische Wiedergabe ᚜ᚒ᚜ᚋᚐᚂ᚜ᚂ (U-MAL-L) und ᚜ᚒ᚜ᚏ᚜ᚌ᚜ (U-R-G), und auch die Zeichnungen bei Brash (Abb.1) und in "Epigraphy" (Abb. 2) sind durchaus unterschiedlich.30 Dennoch erhebt sich die Frage, ob es das "gestohlene" Fragment überhaupt je gegeben hat, oder ob es sich nicht vielmehr um einen "ghost-stone" handelt, der von Macalister selbst aufgrund einer Unklarheit in seinen Aufzeichnungen "produziert" wurde. Dafür spricht auch, daß der "UMALL-Stein" unter denen von Kilcoolaght der einzige ist, der im "Corpus" ohne Angabe einer Größe und ohne eine Zeichnung oder Skizze angeführt ist. Ob in Kilcoolaght tatsächlich ein Stein gestohlen wurde, bleibt also fraglich.31

 

2.4.       Noch ein weiteres Fragment von dem Friedhof in Kilcoolaght verdient unsere Beachtung bei einer Würdigung des "Corpus". Es handelt sich um den Stein Nr. 207 des "Corpus", der nach Macalister als ....]ECC MAQI L[UGUQ]RRIT zu lesen ist.32 Auch hier geben die eckigen Klammern eine Ergänzung an: Zu erkennen sind ausschließlich die beiden Enden eines G-Buchstabens auf der L-Seite. Nach der im "Corpus"

abgedruckten

Skizze (Abb. 3) wäre zwischen dem L und dem G genügend Platz für ein U; diese Restituierung wird jedoch unwahrscheinlich, wenn man die übrigen Vokalzeichen und den von ihnen eingenommenen Raum betrachtet: Dann kommt als "Ergänzung" allenfalls éin Vokalpunkt in Frage, also ein "A". Macalister hätte hier auf seine eigene Skizze in "Epigraphy" zurückgreifen sollen, die die betreffende Stelle wesentlich korrekter zeigt (Abb. 4); hier las der Autor allerdings kein G, sondern ein O: ...ve]CCMAQILon�gRIT[ .33

Im "Corpus" gibt Macalister dann auch den entscheidenden Grund für seine neue Rekonstruktion an: "The extreme top is flaked, carrying off the scores dotted in the diagram: but these can be restored with security, for there is no reasonable room for doubt as to what the name must have been".34 Da keinerlei Anhaltspunkte dafür existieren, wieviel von der Inschrift an der gegebenen Stelle abgebrochen ist, ist die "Ergänzung" LUGUQRRIT vielmehr völlig aus der Luft gegriffen (vgl. Abb. 5: Foto J.G., 1981).

2.5. Die Gefahr, die in Macalisters Darstellungsweise liegt, kann am besten an einem vor kurzem erschienenen Buch zum Thema aufgezeigt werden: es handelt sich um A.A. Korolev, Drevnejšie pamjatniki irlandskogo jazyka, Moskva 1984. Dieses Buch ist der erste Versuch einer vollständigen linguistischen Auswertung der Ogaminschriften.35 Da der sovjetische Autor selbst offenbar keine Möglichkeit einer Autopsie hatte, war er voll und ganz auf das im "Corpus" und in sonstiger ihm greifbarer Sekundärliteratur niedergelegte Material angewiesen. So wurden nicht nur Irrtümer übernommen, wie in dem Fall des eingangs erwähnten Steines aus Rockfield / Kerry, auf dem Macalister ein zweites B in den Namen CORBBI hineingelesen hat: seine Lesung lautete COILLABBOTAS MAQI CORBBI MAQI MOCOI QERAI (vgl. Abb. 6, die Skizze im "Corpus", und Abb. 7, Foto J.G., 1978).

36 Es entstanden vielmehr auch neue Irrtümer wie bei einem Stein aus Houseland / Wexford. Dieser Stein, der inzwischen übrigens im National Museum in Dublin aufbewahrt wird, war nach Macalister in drei Teile zerbrochen, von denen nur zwei ans Licht gekommen sind; bei Korolev sind es vier Teile, von denen drei gefunden wurden.37 Eine Inschrift aus Ballyknock / Cork, die Macalister als "difficult to decipher" bezeichnete, und von der er meinte, "that the inscription was made as inconspicuous as possible, presumably to evade hostile observation", wird bei Korolev schlicht als "Inschrift in gutem Zustand" apostrophiert.38 Von Macalisters Lesung DRUTIQULI MAQI MAQI RODAGNI kann ich nur wenige Buchstaben(teile) bestätigen:


᚜ᚌ᚜᚜ᚈᚒᚊᚑᚂ᚜᚜᚜ᚊ᚜᚜᚜ᚊ᚜᚜ᚏᚑᚑᚐᚑᚅᚔ᚜ ;


der Versuch einer Interpretation erübrigt sich.

3.       Was also muß eine Neuausgabe leisten? Aus dem bisher gesagten dürfte deutlich geworden sein, daß zunächst eine Autopsie aller Steine unumgänglich ist. Diese Autopsie sollte möglichst von mehreren Fachleuten durchgeführt werden, damit die zu erwartenden unterschiedlichen Auffassungen diskutiert werden können. An die Neuausgabe sind aber auch höhere Ansprüche in bezug auf die Darstellung und die Auswertung zu stellen.
3.1.       Bei der Wiedergabe muß deutlicher geschieden werden zwischen der Lesung und der Interpretation; einfache Wiedergaben in Lateinschrift, wie sie Macalisters "Corpus" bietet, sind (auch bei der Verwendung von Klammern) viel zu suggestiv! Im Falle der "LUGUQRRIT"-Inschrift aus Kilcoolaght muß z.B. deutlich werden, daß vor dem CC nur zwei Vokalpunkte vorhanden sind; daß die beiden Schrägstriche hinter dem L als O oder als untere Enden eines G gelesen werden können; daß nicht klar ist, ob hinter dem O bzw. G weitere Buchstaben folgten; daß von dem ersten R nur drei, höchstens vier Striche erkennbar sind; daß nicht klar ist, wieviele Zeichen dem R vorausgingen und hinter dem angenommenen T folgten; und letztlich, daß die Leserichtung lediglich auf éiner Kante, nämlich durch das Wort MAQI, mit großer Sicherheit bestimmbar ist.39 Dies alles kann weniger umständlich nur in Ogamschrift selbst wiedergegeben werden. Eine "offene" Wiedergabe könnte etwa wie folgt aussehen:

]ᚑᚋᚐᚊᚔᚂ[ ]ᚌ[ | ]ᚃᚔᚏᚍ[


Daran anschließen müßte sich eine Interpretation der einzelnen Kanten, die die gegebenen Möglichkeiten aufzeigt:

            O                                                      O                                    O                                                      O
      ]      U      M      A      Q      I            L      [      ]      G      [      bzw.            ]      U      M      A      N      I            D      [      ]      G      [
            E                                                                                          E
            I                                                                                          I
                                                                              und

                              T                  Ŋ                                                                  V                  Ŋ
                        ]      C      I      R      Z      [                        bzw.                        ]      S      I      R      Z      [
                              Q                  R                                                                  N                  R

Es ist bezeichnend, daß Macalister selbst eine ähnliche Darstellungsweise in seiner "Epigraphy" noch vorgezogen hat.

3.2.       Ferner muß die Dokumentation in einem möglichst hohen Maße durch fotografische Abbildungen unterstützt werden, da auch die Verwendung von Zeichnungen, wie wir gesehen haben, zu leicht subjektive und suggestive Züge mit sich bringt; die angebotene Lesung muß dem Benutzer anhand der Bilder nachvollziehbar sein.40
3.3.       Eine Neuausgabe sollte über die reine Dokumentation hinaus aber auch Hilfsmittel für eine Auswertung der Daten bieten. Dies betrifft zunächst die Schaffung einer Typologie, die die äußeren und inneren Daten in Übereinstimmung zu bringen versucht. Mit den äußeren Daten sind zunächst die Form des Steins, dann die Anlage der Inschrift auf ihm und, nicht zuletzt, die Form der Zeichen selbst gemeint; ich erinnere z.B. an die beiden neu gefundenen Steine im Museum von Cork, die sich in allen drei Punkten wesentlich unterscheiden. Mit den "inneren" Daten meine ich die linguistischen Gegebenheiten. Die Inschriften stammen bekanntlich aus einem Zeitraum, in dem sich in der irischen Sprachgeschichte die wichtigsten lautlichen Veränderungen wie Apokope und Synkope vollzogen haben, und sie alle spiegeln sich in den Inschriften wieder.41 Indem die äußeren und inneren Daten aufeinander bezogen werden, läßt sich evtl. eine Chronologisierung im Sinne einer Paläographie erzielen.
3.4.       Die Neuausgabe sollte meines Erachtens auch nicht davor zurückschrecen, wie es Macalister in seinem "Corpus" tat, nach Verbindungen zwischen in den Inschriften und in sonstigen Quellen genannten Personen zu suchen.42 Dies setzt natürlich eine umfassende Auswertung der zur Verfügung stellenden Materialien zumeist genealogischer Art voraus. Auf der gleichen Ebene läge eine Einbeziehung toponymischer Daten, wie sie etwa im Falle des Namenspatrons von Corkaguiney erfolgreich war.

4.       Die dringendste Aufgabe, die im Vorfeld zu lösen wäre, ist die Sicherung des Materials. Während nämlich die Ogamsteine in Wales weitestgehend in der Obhut von Museen oder Kirchen sind,43 stehen in Irland noch immer viel zu viele Steine auf dem freien Land und sind damit allen schädlichen Einflüssen von außen ausgesetzt.

4.1.       Dies läßt sich z.B. an dem oben erwähnten Stein vom Strand von Ballinrannig demonstrieren: Der Stein, den ich zum ersten Mal 1978 in Augenschein nehmen konnte, war bei einer zweiten Besichtigung 1981 beinahe umgefallen;44 damit nicht genug, wurde er von Campern auch als geeigneter Schutz für ihre Notdurften benutzt. Der Stein von Emlagh East (ebenfalls in Corkaguiney), der als der erste in Irland entdeckte Ogamstein überhaupt gelten kann,45 liegt zur Zeit auf einem gemauerten Podest ca. 20 cm über der Wasseroberfläche; auch diese Position ist der Erhaltung der Inschrift wohl kaum zuträglich (vgl. Abb. 8: Foto J.G., 1978). Ein Stein aus der Umgebung von Cork, der zu Macalisters Zeit noch als Türpfeiler in einer Scheune diente, sollte bei meiner Besichtigung im Jahre 1981 gerade beseitigt werden, nachdem die Scheune abgerissen worden war; ich konnte ihn mit den Exkursionsteilnehmern nur mit Mühe aus einem Schutthaufen bergen.46 Um eine sichere Lesung herbeizuführen, hätte der Stein vollständig gereinigt werden müssen, wozu uns jedoch die nötigen Materialien fehlten.47

4.2.       Nicht nur wegen der Materialsicherung halte ich es für geboten, solche Steine, die sich ganz oder teilweise in der Erde befinden, auszugraben; wie sich zeigen läßt, ist dabei nämlich auch noch neues Material zu gewinnen. Es handelt sich zum einen um solche Steine, die als Abdeckungen in den frühgeschichtlichen Souterrains benutzt wurden, und die nur zum Teil überhaupt bekannt sind.48 Ich konnte bisher zwei solcher Souterrains betreten; dabei war jedoch jeweils nur einer der verzeichneten Steine zugänglich.49 Das Ausgraben kann sich aber auch bei solchen Steinen lohnen, die nur teilweise in der Erde verborgen sind. Der einzige bisher bekannte Ogamstein der irischen County Leitrim, in Cloonmorris, wurde zu Macalisters Zeit als Grabstein benutzt;50 Macalister las auf der rechten Kante des Steins (abwärts) QENUVEN, auf der linken Kante die Buchstaben G und TT (vgl. seine Skizze, Abb. 9).

Vor meiner Besichtigung 1978 hatte man den Stein nun gehoben und an der Mauer des Friedhofs drapiert. Dabei war er gegenüber seiner im "Corpus" verzeichneten Stellung um 180 Grad gedreht worden, vermutlich, weil er sich so besser aufstellen ließ. Eine neben dem Stein angebrachte Tafel gibt Macalisters Lesung entsprechend wieder. Anscheinend blieb jedoch unbemerkt, daß auf der nunmehr obenliegenden Kante ein neuer Teil der Inschrift zum Vorschein gekommen ist, der die Lücke zwischen der linken und rechten Kante schließt; es handelt sich um die drei deutlich zu erkennenden Buchstaben ᚊᚔᚈ. Im Gesamtzusammenhang läßt sich annehmen, daß sich dahinter das Ende des Wortes MAQI und der Anfang eines folgenden Patronyms verbirgt, wodurch sich eine eindeutige Leserichtung ergibt. Die Inschrift ist nunmehr wie folgt wiederzugeben:



ᚊᚓᚅᚑ᚜᚜ᚅ᚜᚜᚜᚜᚜᚜|ᚊᚔᚈ|᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜᚜ᚌ᚜ᚈᚆ᚜᚜᚜



Dies ergibt in der wahrscheinlichen Leserichtung die Interpretation

                                                                        T                                    H
                        QENO EN                         |QI      C|                  G            T      D
                                                                        Q                                    T
                                                                                                            C
                                                                                                            Q.

Schon bei der Erstveröffentlichung der Inschrift hatte J. MacNeill eine Restituierung in der Form "Qenuvin[di], or more probably the derivative form Qenuvin[dagni]" erwogen.51 Aufgrund des jetzt bestimmbaren Freiraumes ist die zweite Lösung unbedingt vorzuziehen; damit ergibt sich für den Anfang der Inschrift eine Rekonstruktion in der Form *QENOVEN(D)AGNI MAQI ..., d.h. "(Stein des) Cenannán, Sohnes des ...".52
4.3.             Angesichts der hier aufgezeigten Umstände möchte ich mit einem Appell schließen, den ich wörtlich von dem Herausgeber des "Corpus" übernehmen kann; die Forderung, die Macalister schon 1914 an die Irische Akademie richtete, lautete "to make representations to the responsible local officials, and to secure that these ancient monuments be deposited, if only on loan, in the Museum. One Ogham stone which formerly stood in the cemetery of Killen Cormac has been smashed to supply materials for the wall that surrounds it. At any moment the valuable monuments that remain may meet the same fate."53




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Copyright Jost Gippert, Frankfurt a/M 13. 8.2001. No parts of this document may be republished in any form without prior permission by the copyright holder.