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Dies ist eine Internet-Sonderausgabe des Aufsatzes
„Zu den sekundären Kasusaffixen des Tocharischen“
von Jost Gippert (1987).
Sie sollte nicht zitiert werden. Zitate sind der Originalausgabe in
„Tocharian and Indo-European Studies“ 1, 1987, 22-39
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Attention!
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„Zu den sekundären Kasusaffixen des Tocharischen“
by Jost Gippert (1987).
It should not be quoted as such. For quotations, please refer to the original edition in
„Tocharian and Indo-European Studies“ 1, 1987, 22-39.



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Jost Gippert, Frankfurt 1999-2001
J. Gippert

ZU DEN SEKUNDÄREN KASUSAFFIXEN

DES TOCHARISCHEN



      0.1. Es ist ein auffälliges Merkmal des Tocharischen, daß es im Bereich der Nominalflexion den hochflexivischen indogermanischen Typus durch einen überwiegend agglutinativen Typus ersetzt hat: Mit flexivischen Mitteln werden nur noch die drei Kasus Nominativ, Obliquus und Genetiv gebildet1, während lokale und adverbielle Verhältnisse durch ein System von Suffixen bezeichnet werden, die sich ohne formale Variation nach Genus, Numerus oder Stammklasse mit dem Obliquus verbinden2. Obwohl dieses System zu zahlreichen Spekulationen über außerindogermanische Einflüsse führte3, ist die Forschung doch seit der Entdeckung des Tocharischen bemüht gewesen, die verwendeten Mittel auf indogermanischem Hintergrund zu etymologisieren und zu erklären. Diese Versuche haben bisher jedoch noch kaum allgemein akzeptierte Ergebnisse gezeitigt. Der Grund liegt vor allem darin, daß die einzelnen Affixe in den beiden tocharischen Dialekten nur äußerst geringe übereinstimmungen zeigen. Tatsächlich kann nur in einem Fall, nämlich bei dem Lokativaffix A -aṃ / B -ne, die etymologische Identität als allgemein akzeptiert gelten4. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die bisherigen Deutungsversuche der "sekundären Kasusaffixe" vor allem den Mangel haben, daß sie die Möglichkeiten eines systematischen Vergleichs der Daten beider Dialekte außer acht lassen und daß nur durch diesen Vergleich neue Erkenntnisse erlangt werden können5.
      0.2. Zur Orientierung seien zunächst die synchronen Gegebenheiten der beiden Dialekte vorausgeschickt. Aufgrund ihrer Funktionen lassen sich die einzelnen Affixe wie folgt gruppieren:

   A  B
 "Lokativ"  -aṃ  -ne
 "Ablativ"  -äṣ  -meṃ
 "Allativ"  -ac  -ś, -śc, -śco
 "Perlativ"   -sa = /x́-sā/
 "Instrumental"  -yo  /
 "Komitativ"  -aśśäl  -mpa = /x́-mpā/
 "Kausalis"  /  6.


      0.3. Um die Wirkungsweise der Affixe im Zusammenhang mit dem Obliquus als Bildungsgrundlage zu veranschaulichen, ist es zweckmäßig, einmal zwei vollständige ost- und westtoch. Paradigmen miteinander zu konfrontieren. Als Beispiele mögen A yuk / B yakwe "Pferd" und A oṅk / B eṅkwe "Mann" dienen7. Beiden Wörter gehören zwar derselben Flexionsklasse (V) an, unterscheiden sich aber dadurch, daß das zweite als Bezeichnung eines vernunftbegabten Lebewesens über einen eigens charakterisierten, vom Nominativ unterschiedenen Singularobliquus verfügt. Man vgl. z.B.:

   A  B
   Sing.  Plur.  Sing.  Plur.
 Nom.  yuk  yukañ8  yakwe  yakwi
 Gen.  yukes  yukaśśi  yäkwentse  yäkweṃts
 Obl.  yuk  yukas  yakwe  yakweṃ
 Lok.  yukaṃ  yukasaṃ  yakwene  yakweṃne
 Abl.  yukäṣ  yukasäṣ  yakwemeṃ  yakweṃmeṃ
 All.  yukac  yukasac  yakweś(c)  yakweṃś(c)
 Perl.  yukā  yukasā  yakwesa  yakwentsa
 Instr.  yukyo  yukasyo  /  /
 Komit.  yukaśśäl  yukasaśśäl  yakwempa  yakweṃmpa



 Kaus.  /  /  yäkweñ  yäkweṃñ
         
 Nom.  oṅk  onkañ  eṅkwe  eṅkwi
 Gen.  oṅkis  oṅkaśśi  eṅkwentse  eṅkweṃts
 Obl.  oṅkaṃ  oṅkas  eṅkweṃ  eṅkweṃ
 Lok.  oṅknaṃ  oṅksaṃ  eṅkweṃne  eṅkweṃne
 Abl.  oṅknäṣ  oṅksäṣ  eṅkweṃmeṃ  eṅkweṃmeṃ
 All.  oṅknac  oṅksac  eṅkweṃś(c)  eṅkweṃś(c)
 Perl.  oṅknā  oṅksā  eṅkwentsa  eṅkwentsa
 Komit.  oṅknaśśäl  oṅksaśśäl  eṅkweṃmpa  eṅkweṃmpa9


      1. Der bedeutendste Unterschied zwischen den Affixen des Ost- und Westtocharischen besteht darin, daß die ersteren durchweg mit vokalischem Anlaut anzusetzen sind (einzige Ausnahme ist das Affix des Instrumentals, -yo), die letzteren jedoch mit konsonantischem Anlaut. In seiner Systemhaftigkeit wurde dieser fundamentale Unterschied zwischen den beiden Dialekten nirgends gebührend berücksichtigt, obwohl, wie sich zeigen läßt, gerade er den Schlüssel für eine weitergehende etymologische Deutung der Affixe birgt.

      1.1. Die bisherigen Untersuchungen zu den sekundären Kasusaffixen gingen zumeist ezplizit oder implizit davon aus, daB diese historisch aus eigenen Wortgebilden entstanden seien und erst einzelsprachlich, d.h. in den beiden Dialekten unabhängig voneinander mit Obliquusformen zu sekundären Kasus verschmolzen seien. Diese Annahme deckt sich mit folgenden Beobachtungen:
      a) Die "sekundären" Kasus sind in beiden Dialekten zur "Gruppenflexion" fähig, d.h. in einer koordinativen Reihe braucht das Affix nur einmal, hinter dem letzten Glied gesetzt zu werden, die übrigen Glieder stehen im einfachen Obliquus10;
      b) im Westtocharischen unterliegen die sekundären Kasusformen meist nicht der sog. "Akzentregel", wonach in mehr als zweisilbigen Wörtern der Akzent auf die zweite Silbe fällt (vgl. in den obigen Paradigmen die Formen yakwesa - /yä́kwesā/ oder yakwene – /yä́kwene/), die endgültige Anbindung der Affixe an den Obliquus kann also nicht älter sein als der Eintritt der Akzentregel selbst11;
      c) in den obigen Vergleichsparadigmen können tatsächlich nur einige der primären kasusformen direkt miteinander identifiziert werden, und nur diese gestatten a priori die Rekonstruktion einer gemeinsamen urtoch. Basis; es handelt sich um die Formen

 Nom./Obl.Sg.  A yuk, B yakwe  < urtoch.  *yäkwæ12,
 Gen. Sg.  A yukes, B yäkwentse  <  *yäkwænsæ13,
 Nom. Sg.  A oṅk, B eṅkwe  <  *ænkwæ12,
 Obl. Sg.  A oṅkaṃ, B eṅkweṃ  <  *ænkwæn(-).


Weniger sicher ist die gemeinsame Zurückführung der Formen


   Obl. Pl.  A yukas, B yakweṃ  auf  *yäkwæns(-)
 und
   Obl. Pl.  A oṅkas, B eṅkweṃ  auf  *ænkwæns(-),


da für die hier vorliegende Lautentsprechung A -s, B -n (- <-ṃ>) keine Beispiele außerhalb der Formkategorie des Obliquus Plural angeführt werden können.


      1.1.1. Gerade die Beurteilung der letztgenannten Entsprechung ist aber von entscheidender Bedeutung für die oben aufgeworfene Frage, ob die sekundären Kasusformen als solche bereits im Urtoch. existiert haben können. Unter der Bedingung, daß A -s und B -n tatsächlich die Fortsetzer eines gemeinsamen urtoch. *-ns sind, läßt sich nämlich zumindest auch Pl. eine der oben angeführten Kasusformen ein urtoch. Vorläufer ansetzen. Es handelt sich um den Perl. Plural A yukasa, B yakwentsa, der so auf ein urtoch. *yäkwens-ā zurückführbar ist. Dabei wäre *-ā das im Osttoch. auch im Perl. Singular yukā erhaltene. ursprüngliche Affix des Perlativs.
      1.1.2. Diese Herleitung, die im wesentlichen einem Vorschlag G. Klingenschmitts folgt14, hat folgende Implikationen:
      a) Der Lautwandel *-ns > B -n hätte nur im absoluten Wortauslaut stattgefunden, nicht aber in der "gebundenen Stellung" vor einem antretenden Kasusaffix;
      b) die z.B. für den Gen. Sg. A yukes (= B yäkwentse) vorauszusetzende Entwicklung eines epenthetischen -i- Elements in der Folge *V-ns-V > *V-i̯ns-V15 wäre auf echte Inlautsstellung beschränkt gewesen, nicht aber vor einem (vokalisch anlautenden) Kasusaffix eingetreten.
      Es wäre mit anderen Worten also impliziert, daß die Kombination Obl. (PIural) + Kasusaffix (Perl.) im Urtoch. als der gemeinsamen Vorstufe des Ost- und Westtoch. bereits existierte, daß sie dabei noch nicht vollständig univerbiert war, aber auch keine normale. feste Wortgrenze mehr in sich trug.
      1.2. Trotz der nicht unbedeutenden Implikationen spricht für diese Theorie, daß sie nicht nur ad hoc an die gegebenen innertoch. Vergleichsmöglichkeiten angepaßt ist, sondern mit der Herleitung des Obl. Pl. aus einer Form auf *-ns letztlich auch einen außertoch. Anschluß, nämlich an den uridg. Ausgang des Akk. Pl. nicht neutraler Stämme gestattet; im gegebenen Fall: urtoch. *yäkwæns < uridg. *eḱu̯ons16. Zum anderen läßt sich auf ihrer Basis zwanglos erklären, auf welche Weise ein ursprüngliches, urtoch. Formans *-ā perlativischer Funktion im Westtoch. die Form -sa (- unbetontes -sā) annehmen konnte: Nachdem hier der Obl.
Pl. das auslautende -s verloren hatte, ergab sich eine Proportion Obl. Pl. *yä́kwæn / Perl. Pl. *yäkwænsā, die eine Reanalyse von *yä́kwæns-ā zu *yä́kwen-sā nach sich zog; das neugewonnene Affix -sā konnte nun auch an den Obl. Sing. antreten: *yä́kwæ-sā17. Entscheidendes Argument für die Richtigkeit der Annahme ist aber, daß sie den Weg für die Analyse weiterer sekundärer Kasusformen ebnet.

      1.2.1. Das Affix des Allativs begegnet im Westtoch. in den Formen -śco, -śc und . In Übereinstimmung mit der oben wiedergegebenen Herleitung des westtoch. Perlativs liegt es nahe, auch für dieses Affix zunächst vom Plural auszugehen und B yakwenś etc. auf ein urtoch. *yäkwæns-cV zurückzuführen18. Die hierfür anzunehmende Assimilation von s + c zu śc ist durch Beispiele wie B ścirye (A śre) "Stern", wohl über urtoch. *ścär- < uridg. *h2ster-, gewährleistet19. Die Vorform *yäkwænś-cV wäre dann in der gleichen Weise reanalysiert worden wie die Vorform des Perl. Pl., wodurch das Suffix in der Form -ś(c(o)) verallgemeinert werden konnte: die Proportion All. Pl. *yäkwænś-cV / Obl. Pl. *yäkwæn führte zur Reanalyse *yäkwæn-ścV, das neugewonnene Suffix -ścV wurde auch auf den Singular *yäkwæ-ścV übertragen.

      1.2.2. Diese Herleitung hat nicht nur den Vorteil, daß sie für zwei sekundäre Kasus des Westtoch. den gleichen Entwicklungsgang annimmt, sondern sie gestattet wiederum auch eine Identifikation der west- und osttoch. Formantien. Hierfür ist zunächst die Frage zu stellen, wie im gegebenen Falle der urtoch. All. Singular ausgesehen hätte, der im Westtoch. durch *yäkwæ-ścV ersetzt wurde. Da im Sinne obiger Herleitung das eigentliche Kasusaffix im Urtoch. lediglich -cV lautete, ergibt sich als Vorform des All. Sg. *yäkwæ-cV. Genau diese Form kann sich nun hinter dem osttoch. yukac verbergen, wobei -a- der Reflex des ursprünglich zum Wortstamm gehörenden urtoch. *-æ- wäre. Ist diese Annahme richtig, so ist für das Osttoch. ebenfalls eine Reanalyse vorauszusetzen, die aber anders als im Westtoch. von der Singularform ausgegangen wäre: Nachdem der Auslaut des (Nom.-) Obl. Sg. *yäkwæ zu yuk apokopiert worden war, ergab sich eine Proportion Obl. yuk / All. yukac, aufgrund derer das Kasusaffix als -ac abstrahierbar wurde. Dieses neugewonnene Affix ließ sich dann auf den Plural übertragen, so daß die zu erwartende A-Form *yukaś20 < *yäkwænścV durch yukas-ac ersetzt wurde.

      1.2.3. Auch für diese Entwicklung spricht wieder, daß sie auf einen weiteren Kasus anwendbar ist. Geht man auch fur den Lokativ von der Singularform aus, so läßt sich die osttoch. Form yuk-aṃ ohne weiteres auf ein umgedeutetes urtoch. *yäkwæ-nV zurückführen, wobei das Affix des Lokativs urspriloglich mit dem n angelautet hätte. Damit ließe es sich eindeutig mit dem westtoch. Lokativaffix -ne identifizieren, wodurch die urtoch. Form als *-næ, präzisierbar wäre. A yukaṃ und B yakwene könnten so sogar als eine echte Gleichung aufgefaßt und auf ein urtoch. *yäkwæ-næ zurückgeführt werden. Im Westtoch. erhebt sich hier aber die Frage nach der ursprünglichen Form des Lokativ Plural: man würde im Zusammenhang mit den bisher vorgestellten Entwicklungen für diesen Dialekt anstelle von yakweṃne ja eher eine Form yakwensne < urtoch. *yäkwæms-næ erwarten, die wiederum ein singular. yakwesne nach sich gezogen hätte. Es ist aber fraglich, ob eine urtoch. Lautfolge *-nsn- in der gegebenen Position tatsächlich zum Westtoch. hin beibehalten worden wäre; es ist vielmehr zumindest denkbar, daß die Gruppe zunächst zu *-nn- vereinfacht wurde21, womit B yakweṃne der direkte Fortsetzer des urtoch. Lokativ Plural wäre.
      1.3. Sämtliche bisherigen Annahmen waren natürlich nur an einem Beispiel entwickelt worden, dem durch urtoch. *yäkwæ- fortgesetzten thematischen Stamm. Die westtoch. Entwicklungen bleiben aber auch für die anderen nicht neutralen Stammklassen gültig, für die ja entsprechend ein Obl. Pl. auf *-ns anzunehmen ist; von hier aus müßten die reanalysierten Kasusaffixe auch auf solche Klassen übertragen worden sein, die uridg. Neutra fortsetzen, wie z.B. der in B camel, Pl. cmela "Geburt" fortgesetzte Typ mit All. cmelaśc (z.B. K 2 a6)22. Demgegenüber setzen die angenommenen osttoch. Entwicklungen unbedingt einen urtoch. Obl. Sg. auf *-æ voraus, dessen auslautender Vokal sich eben im synchron "anlautenden" a- der reanalysierten Allativ- und Lokativendungen manifestiert hätte und dann auf alle anderen Stammklassen übertragen worden wäre. Diese Annahme ist für die Klassen, deren Obl. Sing. im Osttoch. auf Konsonant endigt, auf der Grundlage einer Proportion Obl. Sg. yuk / All. Sg. yuk-ac ohne weiteres motivierbar, da die durch yuk vertretene Klasse ja durchaus stark repräsentiert ist23.

      1.3.1. Daß der durch A yuk, B yakwe vertretene Obl. eines auf ein uridg. thematisches Maskulinum zurückgehenden Wortes (*eḱu̯os) schon im Urtoch. auf den Reflex des Themavokals selbst auslautete, ist ein bemerkenswertes Zusatzresultat des oben aufgestellten Entwicklungsgangs. Es deckt sich mit den Gegebenheiten des toch. Pronominaladjektivs für "der andere', für das das Westtoch. mit der Form alyek auf ein durch die angehängte Partikel -k geschütztes, in Nom. und Obl. Sg. mask. identisches *ālyæ weist24. Man wird sich also fragen. ob sich hinter dieser Form sowohl der uridg. Nom. *ali̯os als auch der uridg. Akk. *ali̯om verbergen, was implizieren würde, daß zum Urtoch. hin sowohl ein auslautendes -s als auch ein auslautendes -m geschwunden wären. Andererseits wäre es nach wie vor verlockend, die Endung -ṃ (- /-n/) des eigens charakterisierten Obliquus Singular vernunftbegabter Lebewesen auf einen Reflex der uridg. Akkusativendung *-m zurückzuführen25. Im Zusammenhang mit den hier aufgestellten Prinzipien ließe sich dies durchaus motivieren: Wenn es schon im Urtoch. eine enge Verbindung zwischen Obliquusformen und ihnen nachgestellten Adverbialformantien gab, so könnte gerade in einer solchen "gebundenen" Stellung der Reflex des auslautenden Konsonanten erhalten geblieben sein26. Dies würde vor allem natürlich im Falle des Perlativs einleuchten, dessen urtoch. Formans ja mit anlautendem Vokal angesetzt wurde; die angeführte Beispielsform A oṅknā wäre so ohne weiteres auf ein urtoch. *ænkwæn-ā mit -æn- < uridg. *-om- zurückführbar27. Allerdings bliebe es schwer zu erklären, warum die Erhaltung dann eben auf die Kategorie von Wörtern beschränkt geblieben wäre, die vernunftbegabte Lebewesen bezeichnen; die Unterscheidung von Nom. und Obl. Sg., die diese Wörtern gestatten, ist ja hauptsächlich da sinnvoll, wo es gilt, einen Agens und einen Patiens zu unterscheiden, also bei Subiekt und Objekt, kaum jedoch bei einer Adverbialangabe. Ich würde deshalb vorziehen, bei den Wörtern, die keinen eigens charakterisierten Obliquus Sing. haben, von einer vorurtoch. Ersetzung der Akk.-Form durch die Nom.-Form auszugehen (beide = *eḱu̯os, *ali̯os). Diese Ersetzung könnte auf genereller Analogie nach den Neutra beruhen, im Falle der thematischen Stämme dürften die neutralen -s-Stämme eingewirkt haben28. Auf jeden Fall bedarf dieses Problem weiterer Untersuchungen.

      1.4. Die bisherigen Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Unter der Annahme, daß schon das Urtoch. die Verbindung des Obliquus mit "sekundären" Kasusaffixen kannte, lassen sich die ost- und westtoch. Endungen des Perlativ, Allativ und Lokativ miteinander identifizieren und jeweils auf eine gemeinsame Vorform zurückführen: urtoch. *-ā, *-cV, *-næ. Dabei ist für das Westtoch. im Falle des Perlativs
und Allativs, für das Osttoch. im Falle des Allativs und Lokativs eine Reanalyse vorauszusetzen, die im Westtoch. eine Umgestaltung nach der Pluralform, im Osttoch. nach der Singularform nach sich zog.

      2. Aufgrund dieser Vorüberlegungen, die allein aus dem systematischen Vergleich der innertoch. Daten hatten gewonnen werden können, ergeben sich nun neue Erkenntnismöglichkeiten für die Etymologie der besprochenen sekundären Kasusaffixe selbst.

      2.1. Für das Suffix des Allativs ist schon früh eine Verbindung mit der
z.B. in griech. οἶκόν-δε vorliegenden Partikel vorgeschlagen worden29. Angesichts der in A śäk, B śak "zehn" zu notierenden Entwicklung von *de- > *śä- ist diese Etymologie nicht ohne Probleme30. Im Zusammenhang mit dem hier vorgeschlagenen Entwicklungsgang läßt sich die Herleitung aber neu motivieren: Es wäre immerhin denkbar, daß in der Verbindung mit vorausgehendem Akk. Pl. eine progressive Assimilation *-nsde > *-nste eingetreten wäre, was zu dem erwarteten urtoch. *-nscä ( > *-nścä) geführt hätte31. Die so entstandene "Endung" -cä müßte dann schon innerhalb des Urtoch. auf die Stellung nach anderen Obliquusendungen übertragen worden sein. Unnötig wird auf jeden Fall die Annahme, die Allativsuffixe des Ost- und Westtocharischen seien auf zwei grundlegend verschiedene idg. Etyma zurückzuführen32.

      2.2. Ist das Formans des Lokativs mit urtoch. *næ richtig angesetzt, so scheidet die zuletzt von A. J. Van Windekens vertretene direkte Identifikation von A -aṃ mit dem in A anapär, B enepre "(da)vor" und in den Adverbien A ane, B eneṃ "innen, herein" vorliegenden *ænæ- aus33. Wahrscheinlich wird hingegen eine Verbindung mit dem im Präs. des toch. verbum substantivum auftretenden Element A na-, B ne- (vgl. z.B. 3. Sg. A naṣ, B nesäṃ), das sich so auf ein mit dem Lokativsuffis identisches Präverb zurückführen läßt34. Als außertoch. Anknüpfung kommt zunächst das im lit. Illativ verbaute Element -n(a) in Betracht35, das mit dem toch. Formans die postponierte Stellung teilt; der weitere Zusammenhang, sei es
mit griech. ἐν etc., sei es mit dem dem slav. na zugrundeliegenden Etymon, bleibt ungewiß.

      2.3. Für den Perlativ sind zwei BrundleBend divergierende Herleitungen vorgeschlagen worden: Die eine geht wie bei den bisher genannten Kasus von einer ursprüinglichen postpositionalen Fügung aus, die andere sieht den toch. Kasus als Fortsetzer des uridg. Instrumentals. Mit der hier vertretenen Entwicklungslinie ist die erste Annahme auf jeden Fall leichter zu vereinbaren: für das anzusetzende urtoch. Formans kommt sowohl eine Verbindung mit lat. ad in Betracht36 als auch eine Identifikation mit dem indoiran. Präverb ā, falls dieses auf uridg. zurückgeht37; diese wäre vorzuziehen, da das indoiran. ā auch als Postposition auftritt und dabei mit voranstehenden Kasusformen univerbiert erscheint38. Bei einer Herleitung aus dem uridg. Instrumental (*-ō < *-o-h bei thematischen Stämmen oder *-h bei konsonant. Stämmen) besteht die Schwierigkeit, daß die für die Identifizierung der ost- und westtoch. Formantien vorauszusetzende Übertragung auf die Pluralformen innerhalb des Urtoch. singulär und kaum zu motivieren wäre: Ein aus uridg. *eḱu̯ō entstandenes *yäkwā hätte zu *yäkw-ā reanalysiert werden müssen, bevor die "Endung" *-ā auch an den Pluralobliquus antreten konnte39. Allerdings ist zu bedenken, daß im Falle vokalisch auslautender Obliquus-Sg.-Formen auch bei der Zurückführung auf eine der gen. Postpositionen eine Zusatzannahme erforderlich ist, nämlich daß der Auslaut mit der Postposition "verschmolzen" wäre (sei es im Sinne einer Krasis, sei es im Sinne einer Elision); man vgl. die
schematisch anzusetzende Form *yäkwæ-ā mit dem durch A yukā vorausgesetzten *yäkwā. Diese Annahme erscheint mir angesichts der in beiden Dialekten synchron herrschenden Sandhiregeln unbedenklich40.

      2.4. Im Zusammenhang mit dem hier vorgestellten Ansatz für einen schon urtoch. Perlativ, Allativ und Lokativ ist natürlich auch ein Blick auf die übrigen sekundären Kasusformen der beiden Dialekte geboten.

      2.4.1. Im Osttoch. scheint mit der Komitativendung -aśśäl ein weiteres Formans vorzuliegen, das seinen synchronen vokalischen Anlaut dem verallgemeinerten Themavokal verdankt. Diese Vermutung bestätigt sich durch die interne Identifizierbarkeit mit der Präposition A śla, B śle, die ebenfalls "mit" bedeutet; eine Form wie yukaśśäl läßt sich so ohne weiteres auf ein früheres *yäkwæ ścälæ zurückführen, das ein analogisches yukasaśśäl nach sich gezogen hätte41. Bemerkenswert sind dabei die Formen, die auf einem durch -ṃ charakterisierten Obl. Sing. aufbauen, da hier die Analogie offenbar nicht immer gegriffen hat; man vgl. z.B. die nebeneinander existierenden Formen Nand(e)ṃśäl und Nandenaśśäl42. Dies konnte auf eine spätere Univerbierung als bei den bisherigen Affixen deuten. Die Etymologie, für die man von *ścälæ- < *stelo- auszugehen hat, bleibt unklar.

      2.4.2. Das osttoch. Ablativsuffix, dessen Normalform als -äṣ angegeben werden kann, unterscheidet sich grundlegend von den bisher behandelten Affixen, insofern es nicht von den thematischen Stämmen aus verallgemeinert sein kann. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, daß es in weitaus größerem Maße als die anderen in seiner Notation schwankt; bei diversen Wörtern herrschen die Schreibungen -aṣ und -āṣ vor43. Da es sich hierbei meist um stehende Wendungen oder sogar erstarrte Formen handelt wie z.B. das als Postposition verwendete ṣurmaṣ "wegen", offensichtlich Abl. Sg. zu ṣurm (= B ṣarm) "Ursache", wird man diese Fälle nur ungern als Neuerungen im Sinne der bisherigen Fälle werten, sondern vielmehr von einer Erhaltung älterer Zustände ausgehen; die "Normalform" -äṣ würde dann eine sich analogisch ausbreitende, jüngere Variante darstellen. Fraglich bleibt, von welcher Stammklasse diese Analogie ausgegangen sein könnte, zumal die Herkunft des Affixes ebenso unsicher ist wie die seiner westtoch. Entsprechung, -meṃ. Das letztere gilt ferner auch für das Suffix des Instrumentals, -yo.

      2.4.3. Für die drei verbleibenden Kasusaffixe des Westtoch., das komit. -mpa, das abl. -meṃ und das des Kausalis liefert die oben aufgestellte Entwicklungslinie keine neuen Erkenntnismöglichkeiten. Da alle drei mit Nasal anlauten, dürften für alle die gleichen Bedingungen gelten, wie sie oben für das Lokativaffix angenommen wurden44. Einer eingehenden Überprüfung bedarf hier vordringlich die Akzentproblematik45.








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