Rundfunksprecher: Professor Strunk, an Sie als Vertreter der indogermanischen Sprachwissenschaften zuerst einmal eine fachbezogene Frage: Die Zeiten sind ja in der Tat vorbei, wo man glaubte, eine Vielzahl von Sprachen zwischen Norwegen und Indien könne man auf eine gemeinsame Ursprache zurückführen. Was ist denn heute Gegenstand der fachlichen Bemühungen bei Ihnen?

K. Strunk: Es heißt ja im deutschsprachen wissenschaftlichen Gebiet immer noch Indogermanische Sprachwissenschaft. Dieser Terminus ist im frühen 19. Jahrhundert von einem Gelehrten namens Klapproth in einem Buch namens Asia polyglotta, das heißt also das vielsprachige Asien geprägt worden, und Klapproht hatte im Auge damit eine Sprachfamilie zu skizieren, von der man etwa 10-15 Jahre vorher beobachtet hatte, daß da offenbar tiefbegründete Verwandtschaftsphänomene gegeben seien. Dieser Terminus ist, wie gesagt, auch nach der damaligen Konzeption in der deutschsprachigen Wissenschaft nach wie vor üblich, während im Ausland für diese Sprachfamilie der Terminus "indoeuropäische" und "indoeuropäische Sprachwissenschaft" verwandt wird.

Rundfunksprecher: Sie üben ja nicht nur Forschung aus, sondern Sie lehren auch. Welches Lehrangebot haben Sie für Ihre Studenten?

K. Strunk: Wir gehen davon aus, daß es gewissen Spachen in dieser Familie gibt, die zentraler, wichtiger, weil besser konserviert sind, und andere die sich schnneller weiterentwickelt haben. Das wirkt sich auf das Lehrangebot aus, so daß wir für Hauptfachstudenten in der Regel vor allem fordern müssen, daß sie recht gut Altgriechisch können, Latein ohnehin, dann aber vor allem Sanskrit, also eine Sprache des Alten Indien und da wiederum vornehmlich in der ältesten Stufe des Vedischen. Um diese Kernsprachen herum gruppieren sich dann andere wie das Altiranische, das dem Altindischen recht nahe steht, oder auch die altgermanischen Sprachen. Die alle müssen wir, zumindestens im Kern und in ihren historisch-grammatischen Bezügen vor allen Dingen anbieten. Dann gruppieren sich darum herum andere wie etwa die baltischen Sprachen, Litauisch und Altpreusisch, oder andere italische Nachbardialekte des Lateinischen wie das Oskische und das Umbrische, ...

Rundfunksprecher: Aber Herr Professor Strunk, der Sinn Ihres Faches erschöpft sich ja sicher nicht darin, eine Kompilation oder, wenn man will, ein Sammelsurium, alter, toter Sprachen zu sein? Was ist der Sinn Ihres Faches?

K. Strunk: Der Sinn und Zweck des Faches beruht ja darin, durch bestimmte Methoden der Sprachvergleichung zu beobachten, daß sich die Entsprechungen von den Lauten angefangen bis zur Syntax, zwischen diesen verwandten Sprachen in einem bestimmten Regelsystem anordnen lassen und dieses Regelsystem der Entsprechungen, wir nennen das auch die Entsprechungsregeln, sind eigentlich der wesentliche methodische Kern unseres Faches, und die Summe aller Entsprechungsregeln sind dann auch der Schlüssel für den Rückschluß darauf, daß diese genetisch verwandten Sprachen im Grunde doch wohl voraussetzen - durch die Fülle der regelmäßigen Entsprechungen - daß sie irgendwann einmal aus einer - wir sagen Grundsprache - d.h. nun nicht menschlichen Grundsprache schlechthin, aber prähistorischen Grundsprache dieser Sprachfamilie hervorgegangen sein müssen.

Rundfunksprecher: Vielleicht, wenn ich einen Aspekt zusammenfassen darf, eine historische Wissenschaft also, die Indogermanische Sprachwissenschaft. Trotzdem ist sie wohl nicht so populär wie die Geschichte, in der Öffentlichkeit zumindest, oder die Kunstgeschichte - entsprechend niedriger sind auch die Studentenzahlen bei Ihnen. Kurz die indogermanische Sprachwssenschaft ist wohl das, was man manchmal so ein Orchideenfach nennt.

K. Strunk: Ja.

Rundfunksprecher: Wie reagieren Sie nun auf diesen Asudruck "Orchiedeenfach"? Ist das bei Ihnen ausschließlich negativ besetzt, von Defiziten her, oder sehen Sie da auch positive Seiten?

K. Strunk: Ich sehe auch positive Seiten, allerdings nicht nur. Sehen Sie, es ist einfach für die Studierenden zunächst einmal sehr viel mühevoller sich die Voraussetzungen für diese Art historische Sprachvergleichung zu verschaffen. Sie müssen sich zunächst einmal ein Menge Sprachen noch erst, jedenfalls in ihrem Grundgerüst kennenlernen. Sie kennen sie noch nicht. Sie müssen sie erst lernen, um sie dann vergleichen zu können. Nun zum Ausdruck Orchideenfach: Die positive Bedeutungskomponente, die zutreffend ist, ist darin zu suchen, daß die Orchidee natürlich eine wundervolle Blume ist, die von Jedermann bewundert und in ihrer Schönheit genossen werden kann.

Rundfunksprecher: Würden denn Sie sagen, wenn es in Deutschland niemanden gäbe, der sich mit der indogemanischer Sprachwissenschaft beschäftigen würde, gäbe es dann ein Defizit in unserer Kultur, in unser geistigen Welt, in der wir uns bewegen?

K. Strunk: Das möchte ich eingentlich doch entschieden bejahen, zumal vor dem Hintergrund der Tatsache, daß dieses Fach seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine ganz entscheidende Entwicklung durchgemacht hat, sich so entwickelt hat, daß einen entscheidenen Beitrag im Kreis vieler Geisteswissenschaften zu leisten imstande ist, ich empfinde es also von wissenschaftsystematischen Standpunkt her nicht so daß ein Defizit herrscht im bezug auf unseres Fach es wird sehr viel mehr darauf ankommen, die Wichtigkeit des Faches im Bewußtsein, nicht nur der Öffentlichkeit schlechthin, sondern auch im Bewußtsein mancher zuständiger Ministerien, und sonstiger staatlicher Stellen wieder anzuheben.

Rundfunksprecher: Wenn, wie Sie sagen, die Indogermanische Sprachwissenschaft und dies mag möglicherweise auch für andere sogenannte Orchideenfächer gelten, für die Zusammensetzung unserer geistigen Welt, unverzichtbar ist, glauben Sie, daß ihrer Wissenschaft, oder wenn Sie wollen den Orchideenfächer allgemein der entsprechende instituionelle Rahmen zur Verfügung steht, den Sie brauchen, um zu forschen, und um Forschung in Form von Lehre dann auch weiterzugeben?

K. Strunk: Die Situation der Faches ist, wenn ich einmal so sagen darf, an den traditionellen deutschen Universitäten, also die, die schon länger existieren, ich möchte da ausdrücklich Universitäten wie etwa die Universität des Saarlandes noch einbeziehen, die ja erst nach dem zweiten Weltkrieg begründet worden ist - da ist das Fach, so weit ich sehe, bisher unangefochten und auch in der Lage gewesen seine Bedeutung im Rahmen einer philosophischen Fakultät zur Geltung zu bringen. Dagegen haben wir an später gegründetet Universitäten, etwa solchen, die seit Ende der 60er Anfang der 70er Jahren gegründet wurden, das Fach bedauerlicherweise nicht mehr vertreten - das hängt ein bißchen auch von der jeweiligen Administration, die da staatlich zuständig ist ab - und deren Einschätzung solcher Fächer.

Rundfunksprecher: Also nicht nur stimmen die Universitäteten, so weit sie sich selbst verwalten, sondern auch die entsprechenden Kultusministerien, die nun ihrerseits ja aber auch wieder nur in gewissen Sinne eine Reaktion auf Resonanz, auf Prestige eines Faches in der Öffentlichkeit widerspiegeln.

K. Strunk: Das würde ich in einem gewissen Rahmen gelten lassen, anderseits würde ich es dahingehend ergänzen, daß es bestimmte allgemeinpolitische und ideologische Vorgaben der allgemeinen Politik geben kann, die dieses oder jenes Fach als wünschenswert oder als weniger wünschenswert ansehen, nicht, von daher kann auch Einfluß auf das institionelle Geschick eines Faches hier und dort genommen werden.

Rundfunksprecher: Im großen Ganzen sieht es in der Welt, meine ich , so aus, daß sie bestimmt wird eher von Experten, von einzelnen Sachkennnern, von Spezialisten, glauben Sie, daß damit die Geisteswissen. oder auch einzelne Fächer wie das Ihre in eine Krise geraten sind?

K. Strunk: Was Sie nun ansprechen, die Frage der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung der Wissenschaften, die ist ein unbezweifelbares Faktum und gilt für die modernen Wissenschaften schlechthin, naturwissenschaften wie auch die Geisteswissenschaften. Darüber könnte man lange sprechen. Und diese Entwicklung hat natürlich auf unser Fach sich ausgewirkt, auch im Rahmen unseres Faches mit seinen im Eingang angedeuteten weitgespannten Bezügen ist es für die aktive Forschung unvermeidbar, daß sich die Gelehrten, um den Erkenntnisstand voranzutreiben, ebernfalls wieder spezialisieren. Es gibt also Spezialisten für das Iranische, für das Hethitische, für das Altitalische usw. In der akademischen Lehre hingegen müssen sie natürlich versuchen, den Studenten sowiet wie mögliche einen Überblick zu vermitteln. Also, es ist beides notwendig: Spezialisierung auf der einen Seite im Interesse eines Fortschrittes der Forschung und - da das Fach ja in sich schon interdisziplinär durch seine Vergleichseigenschaften angelegt ist - muß trotzdem für die akademische Lehre und in gewissem Rahmen auch für die Forschung der Hintergrund des Überblicks gewahrt bleiben.

Rundfunksprecher: Ist denn ein Spezialist aus Ihrem Fach, nehmen wir an für Hethitisch, noch in der Lage, sich mit einem Spezialisten für Altgriechisch, das liegt zeitlich ja gar nicht so weit auseinander -

K. Strunk: Ja.

Rundfunksprecher: für Altgriechisch, noch zu unterhalten fachlich.

K. Strunk: Ja doch, das geht. Und zwar gerade die beiden Beispiele, die Sie nennen, werden sogar vielfach noch kombiniert betrieben. Nicht, das ist der ägäische Raum, wie wir ihn nennen, Griechenland im Westen und der Bereich des Hethitischen, der ja in der heutigen Türkei anzusiedeln ist im Osten, da gibt es auch sehr viele Querverbindungen, sowohl sprachlicher als auch kulturgeschichtlicher Art - grade die können sich noch besonders gut unterhalten.

Rundfunksprecher: Und wie sieht das nun aus mit einem Kontakt zwischen einem Fachfmann für Hethitisch und, sagen wir, einem Romanisten, der im Altfranzösisch zu Hause ist?

K. Strunk: Ja, soweit der Romanist noch im Altfranzösischen zu Hause ist, ist der Kontakt zumindest über die gemeinsamen methodischen Prinzipien und über die Tatsache, daß der Romanist, der sich mit dem Altfranzösischen befaßt, eben auich das Latenischen nicht auslassen kann noch sehr gut möglich. Wenn allerdings, was in den Bereich der Romanistik hinüberführt, der betreffende Kollege sich in der Romanistik ebenso wichtigen, ganz andersartigen Fragestellungen zugewandt hat, dann ist vielleicht die gemeinsame Basis schon etwas schwieriger geworden.

Rundfunksprecher: Ist es heute denn allgemein schwierig im Bereich der Sprachwissenschaften eine gemeinsame Basis zu finden, wenn man sich unterschiedlich spezialisiert hat?

K. Strunk: Ja, wenn wir die Sprachwissenschaft schlechthin ansperechen, dann muß ich das in gewisser Weise bejahen. Wir waren ja ausgegangen von dem Teilgebiet vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft, wenn wir nun auf die Sprachwissenschaft schlechthin zu sprechen kommmen, dann ist es etwa ähnlich wie in manchen Naturwissenschaften, was die Forschungsbereiche inzwischen sehr weit auseinanderklaffen. D.h. aber nicht, daß man nicht ständig bemüht sein muß, das noch möglichst aufzunehmen, was in dem jeweils anderen Bereich gemacht wird, weil nämlich immer wieder sowohl methodisch als auch sachlich Anregungen und Weiterführendes auch aus der ganz anderen Ecke kommmen kann.

Rundfunksprecher: Von den modernen Sprachwissenschaften, nehmen wir einmal Amerikanistik, oder Südamerikansiche Sprachwissenschaften, wird ja verlangt, daß sie einen Beitrag leisten zur Sinnbarmachung, zur Erkennung, zur Interpretation der jeweiligen Welt, die Gegenstand ihrer Bemühungen ist. Das wird in der Öffentlichkeit auch honoriert und anerkannt, wie sieht das bei Ihnen aus?

K. Strunk: Der Begriff Öffentlichkeit muß ja vielleicht auch wieder untergliedert werden, wir haben den Teilbereich akademische Öffentlichkeit, und wir haben den Teilbereich Öffentlichlichkeit schlechthin. Ich darf vielleicht einmal mit dem letztgenannten der ja der weitere Bereich ist, anfangen. Es gibt an der Universität München seit Ende 70er Jahre in jedem Semester eine sogenannte Ringvorlesung, in der ein auch der Öffentlichkeit interessierendes allgemeines Thema aus der Sicht unterschiedlichster Disziplinen behandelt wird. Und da ist es nun so, daß das Fach, das ich vertrete, seit 1979/80 nun schon zum dritten Mal gebeten worden ist, an einer solchen allgemein interessierenden Ringvorlesung teilzunehmen und einen Beitrag zu leisten. Im folgenden Wintersemester heißt das Thema "Frau und Mann", also diese, die Öffentlichkeit ja interessierende Frage der Gleichberechtigung der Frau, der Chancengleichheit usw., also Rahmenthema "Frau und Mann in Natur und Geisteswelt". Und dazu kann ich, und möchte ich, weil ich aufgefordert bin aus unserem Fach heraus, einen Beitrag leisten zum Thema "Grammatisches und natürliches Geschlecht". Das ist also diese Frage, die jetzt vielfach aufkommt, ob etwa eine bestimmte männlich orientierte Struktur unserer Sprachen mitbeteiligt sein könne an einer bisherigen Benachteiligung der Frauen in ihren Lebenschancen.

Rundfunksprecher: In diesem Fall wäre doch wohl der Anstoß des Interesses in dieser akademischen Öffentlichkeit kein historisches Interesse, kein spielerisches Interesse, kein Interesse aus Unterhaltungsmotiven heraus, sondern das hat doch ganz aktuelle Bezüge zur heutigen aktuellen Diskussion.

K. Strunk: Ganz recht. Nur eine recht verstandene Historie, eine recht verstandene Geschichtlichkeit sollte eben stets ihren Beitrag leisten können auch zum Verständnis einer gegenwärtigen Situation.

Rundfunksprecher: Kann man das verallgemeinern in der Formulierung, daß man sagt, die Herausforderungen die auf die historischen Wissenschaften - und damit auch auf Ihr Fach - kommen, kommen aus der Aktualität des Geschehens her? Verspüren Sie davon etwas?

K. Strunk: Ja, davon verspüren wir durchaus etwas. Es ist nur so, daß die Geschichte eben sogenannte Paradigmen, also Beispiele, vergleichbarer Situationen, Erklärungsmöglichkeiten für das Gewordensein dieser oder jener Situation bereithält, die auch einer aufgeschlossenen Öffentlichkeit - "aufgeschlossen" im Sinne von Bereitschaft rational Begründungen zur Kenntnis zu nehmen - durchaus hilfreich sein kann.

Rundfunksprecher: Wie verstehen sich denn, nun andersherum gefragt, die Geisteswissenschaften - vielleicht bleiben wir bei den historischen Wissenschaften - selbst angesichts der Öffentlichkeit, angesichts der Fragen, die von der Öffentlichkeit auf sie zukommen? Sind das lästige Fragen, die von Fall zu Fall beantwortet werden oder bemühen sich die Geisteswissenschaften von sich aus an dem Diskurs der Öffentlichkeit im Bemühen der geistigen Welt von heutzutage - von sich aus teilzunehmen und von sich aus Interpretationshilfen anzubieten?

K. Strunk: Ich denke das Letztere ist der Fall. Es ist ja schon viel beobachtet worden - und das ist eigentlich für die Geisteswissenschaften günstig -, daß in der Öffentlichkeit durchaus Interesse für historisch orientierte Fragestellungen existiert. Also die Bereitschaft, die Aufgeschlossenheit für historische Fragestellungen ist in der Öffentlichkeit vorhanden und die mit solchen Fragen historisch befaßten Wissenschaften sollten Gelegenheit nehmen, und tun dies auch, im Rahmen des Möglichen, ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit nutzbar zu machen. Nur darf das nicht dahingehend umschlagen, daß man nun sozusagen um dieser Information der Öffentlichkeit willen meint, eigentliche Spezialforschung, die sich dann auch in formalen wissenschaftlichen Äußerungen äußern muß und in Spezialistentum äußern muß, vernachlässigen zu dürfen. Man muß wahrscheinlich beides tun.

Rundfunksprecher: Wenn die Gesellschaft, wie Sie sagen, und das wird allenthalben ja auch bestätigt, die Angebote der historischen Wissenschaft zum Beispiel so bereitwillig und so begeistert aufnimmt, dann muß aber vielleicht doch die Frage stellen: Welche Funktion haben denn diese Angebote und diese Leistungen für die Gesellschaft? Ist das etwa so, daß es ein Rückzug ist von den Anforderungen der modernen technologischen Welt? Ist das eventuell so wie bei einem Kind, welches nach einem anstrengenden Schultag sich in sein Spielzimmer zurückzieht? Könnte das so sein, daß die Angebote der Geisteswissenschaften eher Entspannungsfunktion haben gegenüber dem technologischen, ideologischen Streß, in den wir geraten sind?

K. Strunk: Nun, das so zu sehen, würde ich etwas warnen. Das wäre ja die Frage nach einem gewissen Unterhaltungswert dieser oder jener Disziplin und ihrer Inhalte. Das muß man wohl etwas prinzipieller sehen. Es ist die Frage nach dem Sinn der Geisteswissenschaften überhaupt. Ich darf vielleicht einmal darauf hinweisen, daß das, was wir Geisteswissenschaften nennen, im anglo-amerikanischen Ausland den Terminus Humanities hat. Das heißt also, es werden hier Fragen behandelt, die mit menschlichen Grundfragen und menschlichen Grundinteressen zusammenhängen. Diese Grundfragen und Grundinteressen lassen sich ja nicht darauf reduzieren, daß man im Rahmen der technologischen Welt nun die Möglichkeiten hat, das Leben leichter zu gestalten, komfortabler zu gestalten. Das ist alles sehr wichtig, aber es umfaßt eigentlich die menschlichen Grundbedürfnisse nicht voll und sicherlich nicht allein. Ich bin jetzt sehr allgemein in meiner Aussage, aber ich denke, daß darin eine wichtige Funktion der Geisteswissenschaften liegt. Ich darf mal an das Buch von Huizinga erinnern, das den Terminus Homo ludens trägt -"Der spielende Mensch". Das ist einem Sinne zu verstehen, daß also ein intellektuelles Spiel, das Eingehen auf menschliche Grundinteressen auch zur menschlichen Grundbefindlichkeit gehört. Nicht, diese Neugier wie ist das denn eigentlich gewesen? Gehört wohl zum Menschsein überhaupt. Und muß dann eben auch wissenschaftlich gepflegt und nach Möglichkeit beantwortet werden.

Rundfunksprecher: Hans Gadamer hat einmal gesprochen von der Benommenheit in der wir uns befinden: die Benommenheit vom technologischen Traum. Welche Funktion könnten, wenn dies denn zuträfe, die Geisteswissenschaften demgegenüber haben? Es könnte ja auch sein, daß die Geisteswissenschaften die Funktion haben nun einen Weg aus diesem technologischen Traum in eine etwas anders geartete Realität zu zeigen. Eine Realität, in der Kultur und Geist ebenso ihren Platz hätten wie die notwendige Technik.

K. Strunk: Ja, das könnte man im Grunde etwa so sehen wie Sie es in Ihrer Frage formuliert haben, vielleicht nur mit dem Zusatz, daß die heute gern gemachte Trennung zwischen Geisteswissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits ja nicht eine, sagen wir in der Komplexität unserer Welt, also der zu untersuchenden Gegenstände selbst angelegte Trennung ist. Sondern mir scheint, das ist eher so zu sehen, daß hier eine gewisse Arbeitsteilung notwendig geworden ist, die mit der seit vielen Jahrhunderten wachsenden Spezialisierung zusammenhängt. Ich darf daran erinnern, daß noch in den frühen 50er Jahren an den deutschen Universitäten die sogenannten Philosophischen Fakultäten sowohl die sogenannten Geisteswissenschaften als auch die Naturwissenschaften enthielten. Und das war sozusagen die Fortsetzung der aus der Antike stammenden, bei Platon und Aristoteles angelegten Gemeinsamkeit der Fragestellungen, wo die Teilung in Natur- und Geisteswissenschaften gar nicht vorhanden war.

Rundfunksprecher: Glauben Sie denn, daß sich die beiden Seiten soweit voneinander entfernt haben, daß überhaupt kein Dialog mehr möglich ist?

K. Strunk: Nun, ich hoffe das nicht und meine auch hoffnungsfrohe Zeichen sehen zu können, daß dem nicht so ist. Vielleicht darf ich noch kurz zur Situation dieser Teilung sagen, daß man, wenn man pessimistisch wäre, ja die Naturwissenschaftler haben untereinander, wenn sie verschiedenen Disziplinen angehören, schon ebenfalls Verständnisschwierigkeiten. Ein Kollege aus dem Bereich der Biologie sagte mir kürzlich, ja, er verstehe eigentlich bei Sitzungen in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Bayrischen Akademie im Grunde auch kaum noch etwas, wenn der Plasmaphysiker einen Vortrag halte, nicht? Also diese Teilung setzt sich fort. Aber nun gibt es auch das Gegenteil. Dieses nicht nur auf einander Zugehen, sondern diese Zusammengehörigkeit, die nach wie vor vorhanden ist. Es gibt da durchaus Bereiche, Forschungsbereiche und auch Methoden, die zeigen, daß da beide Berufsbereiche, Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften nachwievor voneinander profitieren können. Es ist ja wichtig im Bereich der Naturwissenschaften, zumindestens im Bereich der Grundlagenwissenschaften, der sogenannte naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff. Und einen solchen Gesetzesbegriff gibt es auch in bestimmten Geisteswisssenschaften und da darf ich auf meine eigene Disziplin zurückkommen. Gerade in der Vergleichenden Indogermanischen Sprachwissenschaft! Ich habe vorhin angedeutet, daß der Untersuchungsgegenstand nicht nur die Vielfalt der Sprachen, sondern die Regelmäßigkeit der Entsprechungen ist. Und diese Regelmäßigkeit der Entsprechungen hat sich in gewisse Gesetze fassen lassen. Da gibt es also eine gewisse Brücke zwischen dem naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Gesetzesbegriff, dieser Art. Es läßt sich nicht auf alle Disziplinen übertragen. Es gibt auch gewisse spezifische Unterschiede: Die Fallgesetze haben vor tausend Jahren gegolten und werden aller Voraussicht nach in tausend Jahren immer noch gelten, während die sprachwissenschaftlichen Gesetze, von denen ich spreche, zeitbedingt sind. Wenn ihre Zeit abgelaufen ist, wirken sie nicht mehr und werden durch neue Gesetze ersetzt. Aber auch das ist natürlich schon ein interessanter Tatbestand, der a) gewisse Unterschiede aber b) auch gewisse Gemeinsamkeiten beleuchtet.

Rundfunksprecher: Herr Professor Strunk, Frage "Die Geisteswissenschaften in der Krise?" scheint mir aus Ihrer Sicht und vom akademischen Bereich her gar nicht so eindeutig mit Ja zu beantworten wie dies vielleicht der Fall ist, wenn man die veröffentlichte Meinung anschaut. Würden Sie denn sagen, aus Ihrer Perspektive heraus, die Geisteswissenschaften haben sogar eine neue Konjunktur, sind nicht in der Krise, sondern in einer neuen Konjunktur? So wie Jürgen Mittelstrass das einmal gesagt hat.

K. Strunk: Von der Entwicklung, der Fragestellung, der Forschungsansätze und auch, wie ich meine beobachten zu können, von dem Interesse gerade jüngerer Studentenjahrgänge her möchte ich das eigentlich positiv beantworten. Da sind erfreuliche Anzeichen zu sehen. Eine andere Seite dieser Frage besteht natürlich darin, inwieweit nun die staatlichen Administrationen etwa diesem Tatbestand zu entsprechen bereit sind. Ich habe, wenn ich das recht sehe, in dem für mich überschaubaren Bereich im Grunde nicht zu klagen. Aber ich weiß, daß es an anderen Orten etwas weniger günstig im Hinblick auf die Einschätzung dieser Disziplinen durch die Kultusverwaltungen aussehen mag. Was die weitere Öffentlichkeit angeht da fehlen uns sozusagen die Testmöglichkeiten. Wir haben ja keine Ein- und Ausschaltquoten wie Sie das etwa im Bereich Ihres Fernsehens zumindestens haben, um testen zu können wie Ihre Dinge aufgenommen werden. Das kann ich letzen Endes nicht verantwortlich beurteilen. Aber wenn die Studentenschaft ein Spiegel der Öffentlichkeit ist, dann bin ich da durchaus optimistisch.




Niederschrift nach der Audiodatei: K. Kupfer unter Mithilfe von M. Albino

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