Remigius Geiser, Salzburg (Österreich/Austria)
Grundkurs in klassischem Zimbrisch:
Ergänzungslektion E3: Das leidige Problem der Schreibung
Course in Standard Cimbrian:
Addendum 3: The nasty issue of orthography
Wie
wir schon in der vorigen Ergänzungslektion E2 gesehen haben, hat das Zimbrische
der Sieben Gemeinden schon seit einem halben Jahrtausend eine
schriftsprachliche Norm. Dieser althergebrachten Norm entspricht auch eine
Standard-Schreibweise, welche all die Jahrhunderte hindurch gepflegt wurde und
wird.
Man
darf sich diese tradierte Standardschreibung freilich nicht im Sinne eines
umfangreichen Regelwerkes, etwa vergleichbar mit dem deutschen Duden,
vorstellen. Vielmehr handelt es sich um einen Katalog von "ungeschriebenen
Gesetzen", üblich gewordenen Grundnormen also, die stets mehr oder minder
getreu und einheitlich beobachtet wurden. Eine solche Grundnorm ist zum
Beispiel, daß einem zimbrischen g ein
h angehängt werden muß, falls darauf
ein e oder i folgt, da es sonst auf italienische Art als dsch ausgesprochen würde.
Selbstverständlich
möchte auch dieser "Grundkurs in klassischem Zimbrisch" der
herkömmlichen, klassischen Schreibnorm folgen. Allerdings ist diesbezüglich
seit dem Jahr 1974 ein tiefschürfendes Problem aufgetaucht, welchem diese
Ergänzungslektion E3 hauptsächlich gewidmet ist.
1. MARTAALAR - BELLOTTO
Bèrto
MARTAALAR (italienisch Umberto MARTELLO, 1899-1981) war und ist der wichtigste
Gewährsmann des Zimbrischen, den es je gab. Nicht nur beherrschte er die
Sprache qualitativ 100 %ig perfekt (das konnten und können auch andere native
speaker bis zum heutigen Tag), sondern er hat uns auch quantitativ am meisten
hinterlassen, wie wir in der nächsten Ergänzungslektion E4 sehen werden.
Besonders
wichtig ist darüberhinaus, daß er auch ein zweibändiges zimbrisches Wörterbuch
verfaßt hat mit zimbrisch-italienischen und italienisch-zimbrischen Teilen, mit
sehr aufschlußreichen Beispielsätzen bei den meisten Lemmata, und mit einer
zimbrischen Kurzgrammatik.
Wollte
man die zimbrische Sprache in ihrer Gesamtheit (Lautlehre, Formenlehre,
Satzlehre, Wortschatz und umfangreiche Texte) nach der Hinterlassenschaft einer
einzigen Gewährsperson dokumentieren und daraus eine sprachliche Norm
entwickeln, so könnte man das am besten mit der Hinterlassenschaft von Bérto
MARTAALAR bewerkstelligen. Seine Werke haben zusätzlich noch den Vorteil, daß
sie den heutigen, aktuellen Stand des Zimbrischen wiedergeben. (Allerdings
unterscheidet sich dieser nicht stark vom Stand vor 200 Jahren.)
Ein
besonderer Glücksfall war für Bèrto MARTAALAR das Zusammentreffen mit Alfonso
BELLOTTO (1914-1984), woraus sich eine langjährige, äußerst fruchtbare
Zusammenarbeit entwickelte. Alfonso BELLOTTO war ein versierter Germanist,
dessen ganze Leidenschaft dem Zimbrischen galt. Die Mehrzahl von MARTAALARs
Veröffentlichungen wurde mit BELLOTTO zusammen entwickelt, wobei letzterer die
authentische Sprache des ersteren in ein konsistentes, praktikables,
widerspruchsfreies und wissenschaftlich ausgearbeitetes Schriftsystem
überführte, das auch der herkömmlichen zimbrischen Schreibtradition und den
etymologischen Verhältnissen Rechnung trug.
Fortunately, Martaalar met the Germanist Alfonso Bellotto (1914-1984) who was extremely fond of Cimbrian. Most of Martaalar's works were cooperations with Bellotto. Bellotto took care of the sytematization of the orthography, in line with native traditions and etymological considerations.
Eine
besondere Leistung dieses Schreibsystems MARTAALAR-BELLOTTO besteht darin, daß
die Vokalquantitäten zum Ausdruck gebracht werden. Ferner wird zwischen offenem
und geschlossenem e sowie o unterschieden. Die Graphie
MARTAALAR-BELLOTTO ist daher in jeder Hinsicht aussprachebezogen, oder mit
anderen Worten, man kann aus ihr in jedem Fall die Aussprache mit Eindeutigkeit
entnehmen, was natürlich für den Zimbrischlernenden von immensem Vorteil ist.
Es ist
vor diesem Hintergrund natürlich selbstverständlich, daß die meisten
zimbrischen Bemühungen heute MARTAALAR-BELLOTTO zum Standard nehmen, und das
ist gut so. Es kommt dadurch eine gewisse Vereinheitlichung auf hohem Niveau
zustande, was vielleicht mancher beklagen mag, was aber besonders für
schulische Zwecke praktisch unumgänglich ist.
Und
selbstverständlich folgt auch dieser vorliegende Kurs dem erstklassigen und
weithin akzeptierten Standard von MARTAALAR-BELLOTTO.
2. Grundsätzliches über die Zischlaute im
Zimbrischen
Es
wäre das alles wunderschön, wenn die ganze Sache nicht einen Haken hätte, und
der steckt in den Zischlauten. Hier nämlich waren sich die beiden nicht einig.
Während BELLOTTO eine Schreibung praktizierte, die großenteils mit der
zimbrischen Schreibtradition sowie weiterhin mit der gesamten sowohl deutschen
als auch italienischen Schreibtradition übereinstimmte, verfiel MARTAALAR bei
den Zischlauten auf eine sehr eigenwillige und gegensätzliche Lösung.
Man
kann also bei den Zischlauten nicht von einer
"MARTAALAR-BELLOTTO-Schreibnorm" sprechen, sondern hier gibt es nur
entweder MARTAALAR s.str. oder BELLOTTO s.str., und wir müssen uns entscheiden,
welche von beiden wir im vorliegenden Kurs verwenden wollen.
Um die
Dimension des ganzen Problems zu verdeutlichen, soll hier zunächst einmal etwas
grundsätzliches zu den zimbrischen Zischlauten gesagt werden. Wir tun das mit
einem umfangreichen Zitat aus KRANZMAYERs "Historischer Lautgeographie des
gesamtbairischen Dialektraumes" (Böhlau, Wien, 1956). Dort heißt es auf
Seite 88 in § 32.a.2. (Lautschrift von mir verändert):
"Seit
der ausgehenden althochdeutschen Sprachperiode besaß das Bairische insgesamt
vier verschiedene Zischlaute.
Erstens
ein starkes s, das mit unserem
schriftdeutschen Zischlaut der Wörter essen,
Wasser, Fuß identisch ist und das in althochdeutsch-mittelhochdeutscher Zeit
als z (mittelhochdeutsch ëzzen, wazzer, vuoz) geschrieben wurde,
also ein reines Fortis-s; entstanden
ist es durch die hochdeutsche Lautverschiebung aus germanischem t.
Zweitens
ein stimmhaftes s, das zwischen sch wie in französisch jour (Tag) und s wie in
bühnendeutsch Wiese lag, in
althochdeutsch-mittelhochdeutscher Zeit als s
geschrieben wurde und aus germanischem s
in stimmhafter Umgebung um 750 entstanden ist, etwa in mittelhochdeutsch sehen (sehen), hase (Hase), wise (Wiese).
Drittens
ein starkes, stimmloses s, das
zwischen dem oben erwähnten s und sch lag, zum Beispiel in mist (Mist), haspel (Haspel); es wurde
in althochdeutsch-mittelhochdeutscher Zeit gleichfalls als Buchstabe s geschrieben und ist auch aus
germanischem s, diesmal aber in stimmloser
Umgebung, entstanden.
Viertens
schließlich jenen scharfen, vollen sch-Laut,
wie er um die Mitte des 11. Jahrhunderts etwa in mittelhochdeutsch drëschen (dreschen), visch (Fisch) aus
älterem sk (althochdeutsch drëskan, visk) entstanden war, und der heute
noch in dreschen, Fisch und so weiter
fortbesteht.
Diese
alten Verhältnisse offenbaren uns die frühmittelhochdeutschen Lehnwörter in den
Fremdsprachen und deutlicher die Konservierung in der altertümlichsten Mundart
des Bairischen, im Zimbrischen der Sieben Gemeinden, das wir schon öfters als
lebendiges Museum frühmittelhochdeutscher Sprachzustände kennengelernt haben.
... Das Zimbrische der Sieben Gemeinden hat, wie schon mehrfach erwähnt worden
ist, seit 1600 seine eigene Schriftsprache. Deren Rechtschreibung beruht auf
der altvenezianischen Orthographie, die ihrerseits wiederum wie die
italienische Rechtschreibung auf den vulgärlateinischen Buchstabengebrauch
zurückführt, von dem gleichzeitig auch die althochdeutsch-mittelhochdeutsche
Orthographie ausgeht.
We can deduce the qualities of the sibilants from early Middle High German loan words in other languages and even better from Cimbrian which has preserved a lot from Middle High German. Cimbrian has existed as a written language since 1600. Its orthography derives from the old Venetian one, which in turn comes from popular Latin usage (which is also the source of Old/Middle High German orthography).
In
dieser zimbrischen Schriftsprache werden nun die oben genannten Laute in
folgender Weise transkribiert: ezzen,
bazzer, vuuz; seghen, haso ... ; stoan, speck, huusta, haspel, mist, kerssa;
dreschen, visch.
Wer
wird durch diese Schreibungen nicht sofort an die Orthographie der alt- und
mittelhochdeutschen Sprachperiode erinnert mit ihren korrespondierenden
Schriftbildern mittelhochdeutsch ëzzen,
wazzer, vuoz; sëhen, hase ... ; stein, speck, huoste, haspel, mist, kërsse;
drëschen, visch?"
Soweit
KRANZMAYER. Wir ersehen daraus, welche herausragende und zugleich grundlegende
Bedeutung die althergebrachte Schreibweise gerade für die zimbrischen
Zischlaute hat.
Um bei
der etwas unübersichtlichen Materie einen klaren Durchblick zu gewinnen, wollen
wir die anstehende Problematik in einer Tabelle darstellen. Dabei entsprechen
die Spalten 1 bis 4 in gleicher Reihenfolge den vier Zischlauten im soeben
vorgetragenen Zitat KRANZMAYERs. Die zugehörigen Affrikate wurden als Spalten A
und AA davorgesetzt.
Es sei
darauf hingewiesen, daß diese Tabelle nur zur groben Orientierung gedacht ist
und mancherlei Ausnahmen existieren, wie das bei sprachlichen Erscheinungen
fast immer der Fall ist. Sie gilt natürlich auch nur für deutschstämmige Wörter
und alte Lehnwörter, nicht jedoch für Fremdwörter, sei es im Zimbrischen oder
Schriftdeutschen.
Die Schreibung der Zischlaute (incl. Affrikaten)
|
||||||
|
A |
AA |
1 |
2 |
3 |
4 |
a)
Schreibung des jeweiligen Lautes
in der neuhochdeutschen Schriftsprache
(Duden 2000)
|
tz |
z |
ss / ß / s |
s |
s * / sch * |
sch |
b)
mittelhochdeutsche Schreibung
(normalisiert)
|
tz |
z |
zz / z |
s |
s |
sch |
c)
traditionelle zimbrische Schreibung
|
tz |
z |
zz / z |
s |
s |
sch |
d)
Schreibung nach BELLOTTO s.str.
(wie im vorliegenden Kurs)
|
tz ** |
z |
ss / s |
s |
s |
sch |
e)
Schreibung nach MARTAALAR s.str.
|
tz ** |
s |
ss / s |
z |
s |
s / ss |
f)
Aussprache im Zimbrischen
|
normales deutsches tz |
stimmloses s
|
stimmhaft,
|
stimmlos,
|
normales deutsches sch |
|
g)
entsprechender Laut im Englischen
|
tt / t |
t |
t |
s |
s |
sh |
h)
Schreibung des betreffenden
zimbrischen Lautes im Italienischen
|
zz |
z |
zz / z |
s |
s |
sci |
*: s in den Verbindungen sp, st,
chs, dagegen sch in den
Verbindungen schl, schm, schn, schw, rsch.
**: hierher auch die schriftdeutschen und traditionell zimbrischen einfachen z nach Mitlaut: tantzan (=tanzen), hòltz (=Holz), gantz (=ganz) etc. |
Drei
wichtige Dinge kann man aus der Tabelle ohne weiteres sofort ersehen:
Erstens
sieht man, daß die traditionelle zimbrische Schreibung der Zischlaute, wie sie
seit jeher und jahrhundertelang bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts üblich
war (Zeile c), mit der mittelhochdeutschen (Zeile b) völlig übereinstimmt. Das
ist nicht unwichtig, denn schließlich wird ja das Zimbrische gerade wegen
seines altertümlichen Zustandes von vielen Freunden besonders geschätzt, sodaß
es erfreulich ist, wenn das auch im Schriftbild zum Ausdruck kommt.
Zweitens
sieht man sofort, daß auch die Zischlautschreibung nach BELLOTTO s.str.
weitgehend der zimbrischen und mittelhochdeutschen Tradition folgt. Lediglich
in Spalte 1 gibt es Abweichungen, die vermutlich in dem Bemühen um eine
Annäherung an die schriftdeutsche Duden-Schreibweise entstanden.
Drittens
muß man erkennen, daß die Zischlautschreibung nach MARTAALAR s.str. weder mit
der traditionell-zimbrischen (=mittelhochdeutschen), noch mit der
neuhochdeutsch-schriftsprachlichen, noch mit der BELLOTTO s.str. - Schreibung
übereinstimmt, sondern in fast jeder Hinsicht eigenwillig ist. Mit ihr müssen
wir uns daher leider intensiver auseinandersetzen.
3. Die Crux bei der Zischlautschreibung nach
MARTAALAR
Wir
müssen mit Bedauern feststellen, daß es ganze zwölf gewichtige Gründe gibt, die
massiv gegen eine Verwendung der Zischlaute von MARTAALAR s.str. sprechen.
I. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. verläßt die mittelhochdeutsche Schreibtradition.
Betrachten
wir die Spalten 1 bis 4 und AA, so stellen wir fest: Vier von fünf Lauten
(=80%) stimmen überhaupt nicht mit der mittelhochdeutschen Schreibweise
überein. (Die Spalte A lassen wir hier wie auch im folgenden unberücksichtigt,
da hier die Schreibung in allen relevanten Schreibsystemen a bis e identisch
ist.)
Diese
Tatsache ist nicht unwichtig, denn viele Freunde des Zimbrischen kultivieren
diese altehrwürdige Sprache gerade wegen ihres mittelhochdeutschen Charakters
(näheres dazu in Ergänzungslektion E5), der natürlich nicht zuletzt auch im
Schriftbild zum Ausdruck kommen sollte. Es ist daher sehr bedauerlich, daß die
Zischlautschreibung nach MARTAALAR s.str. dieser zentralen Qualität des
Zimbrischen frontal entgegengesetzt ist.
II. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. wendet sich entschieden von der gesamten zimbrischen Schreibtradition
ab.
Auch
in dieser Hinsicht müssen wir leider wieder feststellen, daß 80 % aller Laute
absolut nicht mit der traditionellen, althergebrachten zimbrischen Schreibweise
übereinstimmen, wie sie seit einem halben Jahrtausend in Übung ist.
Eine
solche 180-Grad-Kehrtwendung in der Schreibweise ist gerade für eine
traditionsreiche Hoch- und Schriftsprache wie das Zimbrische (siehe
Ergänzungslektion E2) besonders destruktiv, da sie einen tiefgreifenden
Kulturbruch provoziert, indem die Benutzer des neuen Schreibsystems alle
bisherige Literatur wegen stark behinderter Lesbarkeit verdrängen, mit allen
daraus erwachsenden Konsequenzen für die kulturelle Diskontinuität.
III. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. entfernt sich sehr weit von der neuhochdeutschen Schriftsprache.
In
dieser Hinsicht müssen wir leider feststellen, daß 77 % aller Laute absolut
nicht mit der Orthographie der neuhochdeutschen Schriftsprache übereinstimmen
(die Spalten AA, 2 und 4 zur Gänze, Spalte 3 zur Hälfte und Spalte 1 zu einem
Drittel).
Für
das Zimbrische absolut gesehen mag dieser Umstand bedeutungslos sein. Für
unsere Kursteilnehmer jedoch, die sich allesamt dem Zimbrischen von der
neuhochdeutschen Schriftsprache her nähern, stellt eine solche
Zischlautschreibung eine ganz erhebliche Behinderung dar.
Die
Erfahrung zeigt aber, daß auch viele muttersprachlich welsche Personen, die das
Zimbrische erlernen, dies vom Schriftdeutschen her tun, da aus dieser Richtung
der Zugang zum Zimbrischen um ein Vielfaches leichter ist. In einer
norditalienischen Tourismusregion, wie es das Zimbernland sicher ist, kann man
von einem erheblichen Teil der Bevölkerung mehr oder minder umfangreiche
Kenntnisse der neuhochdeutschen Schriftsprache erwarten. Selbstverständlich
werden diese Kenntnisse bei der Aneignung des Zimbrischen in breitem Umfang
nutzbringend angewendet, was aber leider durch eine schier diametral
entgegengesetzte Zischlautschreibung gravierend behindert würde.
IV. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. brüskiert die gute Arbeit der 13 Gemeinden.
Wie
wir in der letzten Ergänzungslektion E2 gesehen haben, hat das Zimbrische der
13 Gemeinden keine vergleichbar alte und lange Schrifttradition wie das
klassische Zimbrisch der Sieben Gemeinden. Heute jedoch wird das
"Tautsch" der 13 Gemeinden natürlich auch schriftlich gefaßt, und dazu
bedient man sich anerkennenswerterweise der klassischen zimbrischen
Schreibweise, wie sie seit fünf Jahrhunderten in der zimbrischen Schriftsprache
der Sieben Gemeinden in Übung ist.
Daß
MARTAALARs Zischlaute damit zu 80 % nicht übereinstimmen, haben wir bereits
unter Punkt II. mit Bedauern feststellen müssen.
Es
hieße der zimbrischen Sache Hohn sprechen, würden die Sieben Gemeinden, nachdem
ihre altehrwürdige Schreibweise von den 13 Gemeinden übernommen wurde, nun
selbst eine neue und völlig anders geartete Schreibung einführen wollen.
V. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. verschließt sich gegen die Zimbern von Lusern.
Wie
wir in der letzten Ergänzungslektion E2 gesehen haben, hat auch das Zimbrische
von Lusern keine vergleichbar alte und lange Schrifttradition wie das
klassische Zimbrisch der Sieben Gemeinden. Heute jedoch wird das
"Slambròt" von Lusern natürlich auch schriftlich gefaßt, und dazu
bedient man sich eines Schreibsystems, dessen Zischlaute weitgehend der
schriftdeutschen Duden-Schreibung angenähert sind.
Daß
MARTAALARs Zischlaute damit größtenteils nicht übereinstimmen, haben wir
bereits unter Punkt 3 mit Bedauern feststellen müssen.
Ist es
sinnvoll und zielführend, wenn sich die drei zimbrischen Sprachinseln durch
möglichst divergierende Orthographie gegeneinander abzugrenzen und zu isolieren
versuchen? Einen derartigen Vorwurf kann man jedenfalls der MARTAALARschen
Zischlautschreibung nicht ersparen.
VI. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. sondert sich von der italienischen Schriftsprache ab
Auch
in dieser Hinsicht müssen wir anhand von Zeile h) unserer Tabelle leider wieder
feststellen, daß 80 % aller Laute absolut nicht mit den Schreibgewohnheiten der
italienischen Schriftsprache übereinstimmen.
Dieser
Umstand ist besonders zu bedauern, da die meisten Personen ihren Zugang zum
Zimbrischen vom Italienischen her finden. Es kann der zimbrischen Sache nicht
dienlich sein, wenn man versucht, diesen Zugang durch eine aberrante
Schreibweise nach Kräften zu erschweren.
Wie
wir aus dem umfangreichen Zitat KRANZMAYERs ersehen konnten, ist die
herkömmliche zimbrische Schreibung aus der venezianischen entstanden und war
traditionell stets in diese eingebettet. Es wäre sehr schade, wenn dieser viele
hundert Jahre alte, freundschaftliche und unproblematische Konnex mit der
venezianischen Kultur nun durch die Einführung einer inkompatiblen Orthographie
empfindlich gestört würde.
VII. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. ist nicht etymologisch
Während
alle anderen Schreibsysteme des Zimbrischen einen gewissen Einblick in die
lautgeschichtliche Herkunft der Zischlaute gewähren, ist dies bei den
Zischlauten MARTAALARs unmöglich. Dies hat leider zur Folge, daß Leuten mit
mehr oder minder umfangreichen Deutschkenntnissen, also auch einem großen Teil
der welschen Bevölkerung des touristisch gut erschlossenen Zimbernlandes, der
Zugang zum Zimbrischen erheblich erschwert wird. A fortiori gilt dies natürlich
für die Teilnehmer des vorliegenden Zimbrischkurses.
Wer
würde z.B. bei dem zimbrischen Wort satz
vermuten, daß dieses mit unserem wohlbekannten Wort Schatz identisch ist?
Wer
käme bei süntan auf die Idee, daß es
sich um unser zünden handelt?
Und
andersherum: Wer würde bei dem zimbrischen Wort züntan nicht gleich und ohne weiteres an unser zünden denken, obwohl es in Wirkichkeit sündigen bedeutet?
Obendrein
werden durch diese merkwürdigen Zischlaute auch noch unnötige Homonyme
geschaffen wie z.B. das Wort seelan,
das sowohl zählen als auch schälen bedeutet, oder sait, das sowohl Zeit als auch Scheit
bedeutet.
VIII. Die Schreibung der Zischlaute nach
MARTAALAR s.str. ist nicht lautgetreu
Sowohl
die traditionelle zimbrische Schreibweise (Zeile c) als auch die Schreibung
nach BELLOTTO s.str. (Zeile d) bringen die Aussprache eindeutig zum Ausdruck,
wie wir ja bereits in Lektion 1 feststellen konnten. Man kann also von jedem
geschriebenen zimbrischen Wort mit Eindeutigkeit die korrekte Aussprache
entnehmen, ohne daß man dazu eine zusätzliche Angabe benötigt, wie dies etwa im
Englischen der Fall ist. Es braucht gewiß nicht näher erläutert zu werden,
welch kolossale Erleichterung das für den Zimbrischlernenden darstellt.
Leider
gewähren MARTAALARs Zischlaute diesen Lernvorteil nicht. So werden z.B. die
Wörter nass (=nass) und tiss (=Tisch) mit dem selben ss geschrieben, obwohl die beiden
Zischlaute grundverschieden ausgesprochen werden. Gleiches gilt z.B. auch für
die Wörter sanga (=Zange) und sante (=Schande).
Hier
ist der Deutschsprachige noch ein wenig im Vorteil, da er, wenngleich
umständlich, aufs Schriftdeutsche rekurrieren und hierdurch die Aussprache
erschließen kann. Dem Welschen hingegen ist auch dieser Weg verschlossen. Er
müßte die Aussprache besonders dazulernen, aber woher? In MARTAALARs Wörterbuch
sind bei den einzelnen Lemmata keine Ausspracheangaben zu finden.
IX. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. kann nicht konvertiert werden.
Die
Zischlaute der Schriftsysteme a) b) c) d) können bei Bedarf jederzeit nach
festen Regeln ineinander umgewandelt werden, mit Ausnahme der inkonsequenten
einfachen s in Spalte 1.
Anders
die Zischlaute von MARTAALAR s.str. -
Zwar kann man jedes der Schreibsysteme a) bis d) nach einfachen Regeln
in das MARTAALAR'sche System e) überführen, aber dieses kann nicht nach
irgendwelchen Regeln in eines der davorstehenden Schreibsysteme zurückgeführt
werden, da man ja aus keiner Regel ableiten kann, ob einem s der Zeile e) ein z oder
ein sch der vorhergehenden Zeilen
entspricht. Ebensowenig kann man ableiten, ob einem ss der Zeile e) ein sch
oder ein ss bzw. zz der vorhergehenden Zeilen entspricht. Der Deutschsprechende hat
immerhin noch gewisse Chancen, das zugrundeliegende schriftdeutsche Wort zu
erraten, und von diesem her dann die entsprechende Schreibweise für die Schreibsysteme
a) bis d) abzuleiten, obwohl ich es beispielsweise sehr schwierig finde, hinter
einem MARTAALAR'schen biss das
deutsche Wort Fisch zu erraten.
Dem
Welschen hingegen steht selbst diese Möglichkeit nicht offen, sodaß er völlig
aufgeschmissen ist: Wenn er sich ein zimbrisches Wort nach der Schreibung
MARTAALARs angeeignet hat, zum Beispiel aus MARTAALARs Wörterbuch, dann weiß er
nicht und kann auch nicht ermitteln, wie dieses Wort nach BELLOTTO s.str. oder
in der herkömmlichen zimbrischen Orthographie oder im Schriftdeutschen
geschrieben wird, und somit kann er auch die Aussprache nicht ermitteln.
Die
Zischlautschreibung nach MARTAALAR s.str. ist daher eine Einbahnstraße, in die
man zwar billig hineinkommt, wo es aber kein Zurück mehr gibt. Wir Biologen
nennen soetwas eine evolutionäre Sackgasse.
X. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. verschließt ihrem Benutzer über 90 % des zimbrischen Schrifttums.
Hier
sei im Vorgriff auf die nächste Ergänzungslektion E4 (mit ausführlichen bibliographischen
Angaben) nur das Relevante knapp skizziert:
Die
gesamte zimbrische Literatur bis zum Jahr 1974 wurde ziemlich einheitlich in
der klassischen, traditionellen zimbrischen Graphie abgefaßt. Als dann 1974
MARTAALARs Wörterbuch erschien, wurde in der Folge ein kleinerer Teil der neu
erschienenen zimbrischen Schriften (weniger als die Hälfte) mit der
Zischlautschreibung des MARTAALAR'schen Systems abgefaßt. Es sind dies neben
MARTAALARs Wörterbuch nur zwei umfangreichere Werke: das Meßbuch und das
Johannesevangelium.
Es ist
eine besondere Ironie des Schicksals, daß alle umfangreicheren Texte von
MARTAALAR selbst, mit Ausnahme seines Wörterbuches, in der Zischlautschreibung
von BELLOTTO s.str. publiziert wurden. Es sind dies: das Lukasevangelium, die
"Racconti di Luserna", die Fabeln des Gavàttar Jekkelle, der
"Altar Khnòtto", "in de sélbe èerda" und die Sammlung
seiner kleineren Werke, welche 1984 von RAPELLI in Heft 58 von Terra Cimbra
publiziert wurde.
Dieser
Umstand ist von besonderer Bedeutung. Wie wir zu Beginn dieser Lektion in
Kapitel 1 festgestellt haben, ist MARTAALAR völlig zu Recht der zimbrische
Standard schlechthin, sozusagen der Cicero des Zimbrischen, an dem sich heute
fast alle zimbrischen Bemühungen ausrichten und dem selbstverständlich auch
dieser Zimbrischkurs folgt. Zu einem sprachlichen Standard gehört aber nicht
nur ein Wörterbuch (mit Kurzgrammatik), sondern auch und zuallererst möglichst
umfangreiche Standardtexte, um den Sprachgebrauch dokumentieren zu können. Und
die Standardschreibung dieser Standardtexte ist BELLOTTO s.str.
Könnte
man es verantworten, Zimbrischlernenden eine Schreibung einzutrichtern, die
ihnen über 90 % des zimbrischen Schrifttums und gerade auch die zentralen
Standardschriften MARTAALARs verschließt oder zumindest den Zugang ganz
gravierend erschwert? - Ich jedenfalls könnte das nicht verantworten, und daher
folgt dieser Zimbrischkurs der Zischlautschreibung von BELLOTTO s.str.
XI. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. ist dem Tode geweiht.
Wie
wir im vorletzten Punkt IX. gesehen haben, ist die Zischlautschreibung nach
MARTAALAR s.str. eine evolutionäre Sackgasse. Doch nicht nur aus diesem inneren
Grund ist ihr die Zukunft verbaut. Es zeichnen sich auch bereits äußere
Faktoren ab, die ihr das Licht ausblasen werden.
In
diesem Zusammenhang lohnt es sich, das von Hugo RESCH verfaßte deutsche Vorwort
zu MARTAALARs Wörterbuch zu lesen. Darin wird unter anderem auch das
"Vergleichende Wörterbuch des Zimbrischen" vorgestellt, welches zur
Zeit im Auftrag des Curatorium Cimbricum Bavarense erstellt wird. Es wird über
ca. 60000 (in Worten: sechzigtausend!) Lemmata verfügen und daher mit Abstand
das umfangreichste zimbrische Wörterbuch sein, das je erschienen ist. Es wird
dreisprachig sein (zimbrisch/italienisch/deutsch) und auf CD-Rom erscheinen und
mit umfangreichen Suchroutinen und Zugriffsmöglichkeiten in allen drei Sprachen
ausgerüstet sein. Selbstverständlich wird auch MARTAALARs Wörterbuch darin
vollständig eingearbeitet sein, und selbstverständlich wird es die Zischlaute
von BELLOTTO s.str. verwenden.
Mit
dem Erscheinen dieses kolossalen Werkes ist in den nächsten zehn Jahren zu
rechnen. Es steht völlig außer Zweifel, daß es nach seinem Erscheinen alle
zimbrischen Bemühungen nachhaltig beeinflussen und grundlegend prägen wird. Es
wird einen neuen Standard setzen, und dieser wird kein anderer sein als der von
MARTAALAR-BELLOTTO mit den Zischlauten von BELLOTTO s.str.
Im
deutschen Vorwort von MARTAALARs Wörterbuch bezeichnet Hugo RESCH dessen Orthographie
als "eine eigenständige Schreibweise" und "eine sehr originelle
Lösung, die zu mindestens 90 % auch vom 'Vergleichenden Wörterbuch des
Zimbrischen' übernommen werden wird." Das soll heißen: Die Schreibung von
MARTAALAR wird übernommen mit Ausnahme der Zischlaute und des Tobàllarischen b (siehe dazu das übernächste Kapitel).
Den
gleichen Weg geht auch der vorliegende Zimbrischkurs bereits im Vorgriff auf
das künftige Werk, das Maßstäbe setzen wird.
XII. Die Schreibung der Zischlaute nach MARTAALAR
s.str. ist ein eigenwilliges Artefakt.
Mit
der soeben zitierten Bezeichnung "eigenständige Schreibweise" und
"sehr originelle Lösung" will RESCH auf taktvolle Weise mit
euphemistischen Worten zum Ausdruck bringen, daß die Zischlautschreibung eine
auffällige Eigenwilligkeit des ansonsten hochverdienten und unantastbaren
Großmeisters MARTAALAR darstellt.
In der
Tat muß man feststellen: Nach vier Jahrhunderten zimbrischer Schriftkultur und
relativ einheitlicher Zischlautschreibung hat MARTAALAR 1974 künstlich am
Schreibtisch ein völlig eigenwilliges System der Zischlautschreibung
entwickelt, das sich von der gesamten zimbrischen, deutschen und italienischen
Schreibtradition völlig abkehrt.
Keiner
Sprache und keiner Schriftkultur tut so etwas gut.
Wir können
daher dem großen und hochverehrten Meister in diesem einen und praktisch
einzigen Punkt leider nicht folgen.
4. Die Zischlautschreibung in der Praxis
Wir
fassen für die Praxis zusammen:
Unser
Schreibsystem ist MARTAALAR-BELLOTTO.
Da
dies bei den Zischlauten nicht möglich ist, weil es hier nur entweder MARTAALAR
s.str. oder BELLOTTO s.str. gibt, müssen wir uns für eine der beiden
Alternativen entscheiden.
Es
gibt zwölf gravierende und fundamentale Gründe, die Zischlautschreibung von
MARTAALAR s.str. abzulehnen.
Wir
benutzen daher wohlbegründet die Zischlautschreibung von BELLOTTO s.str.
Die
Zischlautschreibung des Mittelhochdeutschen und der klassischen zimbrischen
Schriftsprache (Zeilen b und c unserer Zischlauttabelle) sind identisch. Die
übrigen Zischlaut-Schreibsysteme können wie folgt ineinander konvertiert
werden:
Middle High German and Classical Cimbrian (lines b and c in the table above) are identical.
Von der klassischen zimbrischen Schreibung ins
System BELLOTTO s.str.:
zz wird zu ss
ein
einfaches z nach Selbstlaut wird zu s
ein
einfaches z nach Mitlaut wird zu tz
alles
andere bleibt
zz > ss,
z after vowel > s,
z after consonant > tz.
Vom System BELLOTTO s.str. in die klassische
zimbrische Schreibung:
ss wird zu zz
ein
einfaches s an der Stelle eines
schriftdeutschen ß und/oder eines
englischen t wird zu z
ein tz nach Mitlaut wird zu z
alles
andere bleibt
ss > zz,
s in the place of German ß and/or English t > z,
tz after consonant > z.
Von der schriftdeutschen Orthographie Duden 2000
ins System BELLOTTO s.str.:
sch in den Verbindungen schl, schm, schn, schw, rsch wird zu s
ß wird zu s
ein
einfaches z nach Mitlaut wird zu tz
alles
andere bleibt
sch in schl, schm, schn, schw, rsch > s,
ß > s,
z after consonant > tz.
Vom System BELLOTTO s.str. in die schriftdeutsche
Orthographie Duden 2000:
s in den Verbindungen sl, sm, sn, sb, rs wird zu sch
ein
einfaches s an der Stelle eines
englischen t wird zu ß oder s
tz nach Mitlaut wird zu z
alles
andere bleibt
s in sl, sm, sn, sb, rs > sch,
simple s in place of English t > ß / s,
tz after vowel > z.
Von der klassischen zimbrischen Schreibung in die
schriftdeutsche Orthographie Duden 2000:
s in den Verbindungen sl, sm, sn, sb, rs wird zu sch
zz wird zu ss
ein
einfaches z nach Selbstlaut wird zu ß oder s
alles
andere bleibt
s in sl, sm, sn, sb, rs > sch,
zz > ss.
z after vowel > ß / s,
Von der schriftdeutschen Orthographie Duden 2000
in die klassische zimbrische Schreibung:
sch in den Verbindungen schl, schm, schn, schw, rsch wird zu s
ss wird zu zz
ß wird zu z
ein
einfaches s am Wortende an der Stelle
eines englischen t wird zu z
alles
andere bleibt
sch in schl, schm, schn, schw, rsch > s,
ss > zz,
ß > z,
word-final s in place of English t > z.
Von der klassischen zimbrischen Schreibung ins
System MARTAALAR s.str.:
tz bleibt tz
zz wird zu ss
sch wird am Wortanfang zu s, sonst zu s oder ss
stimmhaftes
s (vor oder zwischen Selbstlauten)
wird zu z
die
übrigen s bleiben s
ein
einfaches z nach Mitlaut wird zu tz
die
übrigen z werden zu s
zz > ss,
word-initial sch > s. otherwise s / ss,
voiced s > z,
z after vowel > tz, otherwise s.
Vom System BELLOTTO s.str. zum System MARTAALAR
s.str.:
tz bleibt tz
ein
einfaches z wird zu s
ss bleibt ss
sch wird am Wortanfang zu s, sonst zu s oder ss
ein
stimmhaftes s (vor oder zwischen
Selbstlauten) wird zu z
die
übrigen s bleiben s
z > s,
word-initial sch > s. otherwise s / ss,
voiced s > z.
Von der schriftdeutschen Orthographie Duden 2000
ins System MARTAALAR s.str.:
tz bleibt tz
ss bleibt ss
ß wird zu s
sch in den Verbindungen schl, schm, schn, schw, rsch wird zu s
die
übrigen sch werden am Wortanfang zu s, sonst zu s oder ss
stimmhaftes
s (vor oder zwischen Selbstlauten)
wird zu z
die
übrigen s bleiben s
ein
einfaches z nach Mitlaut wird zu tz
ein
einfaches z am Wortanfang wird zu s
ß > s,
sch in schl, schm, schn, schw, rsch > s,
other word-initial sch > s, otherwise s / ss
voiced s > z,
word-initial z > s,
z after vowel > tz.
Vom System MARTAALAR s.str. in die anderen drei
Schreibsysteme (klassische zimbrische Schreibung, System BELLOTTO s.str.,
schriftdeutsche Orthographie Duden 2000):
Konvertierung nicht nach
Regeln ableitbar!
Man
muß eines dieser drei Zielsysteme gut kennen, um zu wissen, wie das betreffende
verwandte Wort dort geschrieben wird. Dann kann man davon die Schreibung in
einem der anderen beiden Zielsysteme ableiten. Für die Teilnehmer dieses
Zimbrischkurses ist das möglich, da sie die schriftdeutsche Orthographie Duden
2000 kennen. Ein italienischer Zimbrischlernender jedoch, falls er die
schriftdeutsche Orthographie nicht kennt, befindet sich hier bei der Benutzung
des Wörterbuches und des Schreibsystems von MARTAALAR s.str. in einem way of no
return, wie wir oben schon unter Punkt IX mit Bedauern feststellen mußten, da er die zimbrische
Zischlautschreibung MARTAALARs nicht konvertieren kann und damit natürlich auch
die Aussprache nicht ermitteln kann.
Die
Zischlautschreibung nach BELLOTTO s.str. hingegen ist von diesem Problem
weitgehend frei. "Weitgehend" heißt: Wenn man genau hinschaut, dann
stellt man fest, daß wir bei der Konvertierung der einfachen s aus Spalte 1 teilweise sogar bis ins
Englische zurückgreifen mußten. Die Zischlaute dieser Spalte wurden von
BELLOTTO, mit welchen Motiven auch immer, aus der klassischen zimbrischen
Schreibung herausgenommen und der schriftdeutschen Orthographie angenähert, was
ihre Konvertierbarkeit nicht unerheblich beeinträchtigte.
Ich möchte mir daher an dieser Stelle
eine persönliche Anmerkung erlauben: Ich finde diese Annäherungsbemühung auf
Kosten des klassischen zimbrischen Schriftbildes in keinster Weise
erforderlich. Sie verbessert weder den etymologischen Durchblick, noch führt
sie zu einer besseren Konvertierbarkeit von zimbrischen Zischlauten in die
schriftdeutschen, denn daß dem zimbrischen zz
ein schriftdeutsches ss entspricht,
wußte man bei der klassischen zimbrischen Orthographie auch schon, dazu
brauchte man dieses zz nicht in ein ss zu verwandeln. Und welchem
zimbrischen Buchstaben ein schriftdeutsches ß
entspricht, wird durch BELLOTTO s.str. auch nicht klarer, sondern da hilft
ohnehin nur, daß man das betreffende schriftdeutsche Wort sowieso schon kennt.
Einen erkennbaren Nachteil jedoch, wenngleich um eine ganze Dimension
geringfügiger als bei MARTAALAR s.str., bringt BELLOTTOs Zischlautschreibung
der Spalte 1 für die Ablesbarkeit der Aussprache. Was nämlich in der traditionellen
zimbrischen Schreibweise mit z oder zz geschrieben wird (Spalten AA und 1),
wird auch alles ziemlich gleich ausgesprochen. Eine Unterscheidung in Spirans
und Affrikata macht hier wenig Sinn. Die herkömmliche Schreibweise gibt daher
gerade dem welschen Zimbrischlernenden einen sicheren Hinweis auf die
Aussprache der Laute in Spalte 1, wohingegen BELLOTTOs Schreibung der einfachen
s in Spalte 1 den welschen Schüler
alleine läßt, da er ja nicht, wie unsere deutschsprachigen Kursteilnehmer, aufs
Schriftdeutsche rekurrieren kann. BELLOTTOs Schreibung der Zischlaute in Spalte
1 halte ich daher für ein klein wenig mißglückt. Dennoch werden wir uns aber in
diesem Kurs daran halten, da es sich um eine gut eingeführte Norm handelt, der
ich angesichts der ohnehin schon komplizierten Situation nicht auch noch die
Eigenwilligkeit einer "Schreibung nach GEISER s.str." hinzufügen
will. Ich hätte aber sehr großes Verständnis dafür, wenn andere die Laute der
Spalte 1 traditionell-zimbrisch schreiben, und könnte mir auch gut vorstellen,
daß bei einer künftigen zimbrischen Schriftreform in diesem Punkt wieder zur
zimbrischen Tradition zurückgekehrt wird.
5. Das Tobàllarische b
Das
Tobàllarische b ist eigentlich keine
Frage der Orthographie, sondern einer abweichenden Ortsmundart. Wir behandeln
es aber hier, da die problematischen Aspekte praktisch die gleichen sind wie
bei einer abweichenden Schreibung.
Wir
knüpfen hier an das an, was wir im letzten Kapitel der vorigen
Ergänzungslektion E2 unter der Überschrift "Ist das Zimbrische der Sieben
Gemeinden in sich einheitlich?" erörtert haben. Das Studium dieses
Kapitels sei also hier ausdrücklich nocheinmal empfohlen.
Was ist das Tobàllarische b ?
Wie
bekannt, entspricht jedem schriftdeutschen w
im Zimbrischen ein b. Weiters
entspricht einem schriftdeutschen f
oder v ein standardzimbrisches v, welches auf italienische Art wie
unser schriftdeutsches w
ausgesprochen wird.
Im
heutigen Dialekt von Tobàlle entspricht jedoch nicht nur dem schriftdeutschen w, sondern auch dem schriftdeutschen f und v ein b, das wir in
diesen beiden Fällen, wenn es also an der Stelle eines schriftdeutschen f oder v steht, als Tobàllarisches b
bezeichnen.
Sehen
wir uns das in übersichtlicher Tabellenform an:
schriftdeutsch standardzimbrisch Tobàllarisch
w b b
warm barm barm
f v (Aussprache wie schriftdeutsches w) b
(Tobàllarisches b)
faul vaul baul
v v (Aussprache wie schriftdeutsches w) b
(Tobàllarisches b)
viel viil biil
Die zeitliche und räumliche Verbreitung des
Tobàllarischen b
Fest
steht: Im Ortsteil Tobàlle der Gemeinde Robaan ist diese Lautung seit der Mitte
des 20. Jahrhunderts überwiegend gebräuchlich.
In den
übrigen nordwestlich des Ass-Tales gelegenen Orten (Ròtz mit den Ortsteilen
Purkh und Aspach, sowie der Hauptort der Gemeinde Robaan) ist das Tobàllarische
b seit der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts ebenfalls nachweisbar, aber gleichfalls nicht als ausschließliche
Lautung.
Der
Lautübergang von der zimbrischen Standardlautung v zum Tobàllarischen b
erfolgte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was von KRANZMAYER in
seiner "Laut- und Flexionslehre der deutschen zimbrischen Mundart"
auf Seite 44 in §5E2b dokumentiert wurde. Damals war es bereits ein fast
geschlossenes b.
Vor
dem 20. Jahrhundert ist das Tobàllarische b
nirgends nachweisbar. Wie wir im letzten Kapitel der Ergänzungslektion E2
gesehen haben, sind vom 18. und 19. Jahrhundert sehr wohl Texte von Autoren aus
den Orten nordwestlich des Ass-Tales überliefert, doch das Tobàllarische b findet sich darin nicht.
Auch
in den südöstlich des Ass-Tales gelegenen Teilen der Sieben Gemeinden, also im
Großteil des Gesamtgebietes einschließlich des prägenden und normierenden
Hauptortes Sleeghe, konnte das Tobàllarische b nirgends und niemals nachgewiesen werden, weder im 20.
Jahrhundert noch davor.
Wie verhalten sich MARTAALAR-BELLOTTO?
Alfonso
BELLOTTO hat in seinen zimbrischen Texteditionen (Lukasevangelium, Racconti di
Luserna) ganz selbstverständlich die standardzimbrische v-Schreibung verwendet, obwohl der Gewährsmann seiner Texte, Bèrto
MARTAALAR, ein Tobàllar war. Lediglich beim zimbrischen Tagebuch der Costantina
ZOTTI benutzte er das Tobàllarische b,
weil er in diesem Fall ausdrücklich den spezifischen Ortsdialekt von Tobàlle
dokumentieren wollte.
Bèrto
MARTAALAR selbst hat im ersten Band seines zimbrischen Wörterbuches die
Intention verfolgt, den spezifischen Ortsdialekt von Tobàlle zu dokumentieren,
wie er selbst auf Seite 9 (unten) dieses ersten Bandes feststellt: "Ich
hielt es für geboten, mich streng an die lebende Sprache der Einwohner dieses
Ortes zu halten." Im deutschen Vorwort dazu wird es sogar ausdrücklich als
"Wörterbuch von Mezzaselva" bezeichnet.
Im
zweiten Band jedoch, den er kurz vor seinem Tode verfaßte, war er zu seiner
gereifteren und letztgültigen Erkenntnis gelangt, daß nämlich die
standardzimbrische v-Schreibung
eigentlich die maßgebende ist, und hat sie bei jedem betreffenden Wort
gleichberechtigt neben die Tobàllarische b-Schreibung
gesetzt.
Man
kann also keinesfalls behaupten, die Schreibweise MARTAALAR-BELLOTTO
favorisiere generell das Tobàllarische b,
sondern muß festhalten, daß beide Autoritäten die standardzimbrische v-Schreibung als Norm anerkannt und als
solche auch praktiziert haben.
Wie ist das Tobàllarische b zu beurteilen?
Im
Kapitel 3 dieser Lektion haben wir insgesamt XII schwerwiegende Gründe
erörtert, die frontal gegen die Zischlautschreibung von MARTAALAR s.str.
sprechen.
Die
meisten dieser Gründe sprechen in gleicher Intensität auch gegen das
Tobàllarische b. Es wäre jedoch
müßig, sie hier noch einmal der Reihe nach ausführlich abzuhandeln. Zur
ausführlichen Argumentation sei stattdessen auf das obige Kapitel verwiesen.
Hier hingegen sollen die allerwichtigsten davon nur noch einmal stichwortartig
angeführt werden:
Das
Tobàllarische b weicht gravierend vom
klassischen zimbrischen Standard ab.
Das
Tobàllarische b erschwert den
etymologischen Durchblick.
Das
Tobàllarische b kann nach keiner
Regel in die zimbrische Standardschreibung zurückkonvertiert werden.
Das
Tobàllarische b verschließt seinem
Anwender den Zugang zu über 90 % der zimbrischen Literatur.
Das
Tobàllarische b wird niemals zur Norm
werden.
Wir
stehen hier also wieder vor der gleichen Situation wie bei den Zischlauten von
MARTAALAR s.str.: Wer sich das Tobàllarische b aneignet, dem verschließt sich fast die ganze zimbrische
Literatur, er legt sich auf eine örtliche Variante fest, die nie zur Norm
werden wird (wegen des künftigen "Vergleichenden Wörterbuches des
Zimbrischen", welches natürlich das Standardzimbrische zugrundelegt,
s.o.), und er kann die zimbrische Lokalform, die er sich angeeignet hat, nach
keinerlei Regeln mehr in das Standardzimbrische rückverwandeln.
Wobei
im letzteren Punkt die Teilnehmer dieses Kurses aufgrund ihrer Kenntnisse des
Schriftdeutschen insofern privilegiert sind, als sie ja aus dem jeweils
verwandten schriftdeutschen Wort die standardzimbrische v-Lautung an der Stelle von f
oder v erschließen können. Dem welschen
Zimbrischlernenden ist jedoch auch dieser Weg versagt, sodaß die Benutzung des
ersten Bandes von MARTAALARs Wörterbuch für ihn in eine Sackgasse ohne Ausweg
führt.
Wir
haben also allen Grund, in diesem Kurs die standardzimbrische v-Lautung und v-Schreibung zu benutzen, zumal sie ja auch von MARTAALAR-BELLOTTO,
denen wir folgen, als Norm anerkannt und praktiziert wird.
6. Sonstige Abweichungen
Außer
den bisher behandelten grundlegenden Problemen gibt es noch einige weniger
bedeutsame Punkte, in denen MARTAALAR-BELLOTTO keine einheitliche Linie bieten.
Wir müssen uns daher auch für diese Fälle überlegen, wie wir es halten wollen.
In
allen Fällen, in denen unterschiedliche Angaben darüber vorliegen, ob ein e/ee bzw. o/oo einen Akut oder einen Gravis für geschlossene oder offene
Aussprache erhalten soll, richten wir uns strikt nach dem Wörterbuch von
MARTAALAR, da er ja der native speaker und der zuverlässige Gewährsmann ist.
Ebenso
verfahren wir bei der Frage, ob ein Selbstlaut durch Verdoppelung als lang zu
kennzeichnen ist.
Zwischen
MARTAALAR und BELLOTTO ist auch umstritten, ob zimbrische Wörter auf -g enden können oder ob stattdessen
immer ein -kh zu schreiben und zu
sprechen ist. Wir entscheiden uns für die Endung -kh anstelle von -g an
allen betreffenden Wortenden, da dies der zimbrischen Tradition besser
entspricht.
Enklitika
trennen wir immer mit einem Bindestrich ab, um sie besser sichtbar und
verständlich zu machen, also zum Beispiel Bas
tüü-bar? statt Bas tüübar? (=Was tun wir?).
Wenn
der Selbstlaut der Silbe vor dem Enklitikon ein unbetontes e ist, dann setzen wir stattdessen ein unbetontes a, wie es BELLOTTO im Vorwort zum
Lukasevangelium erläutert hat: khimmat-ar
statt khimmet-ar (=kommt er/ihr).
Überflüssige
Akzente auf Silben, deren Betonung ohnehin nach der Regel klar ist, vermeiden
wir, um das Schriftbild und den Leser nicht unnötig zu belasten; also zum
Beispiel gatoofet statt gatóofet (=getauft) und laita statt làita (=Hang).
Es
gibt bei MARTAALAR-BELLOTTO unterschiedliche Auffassungen darüber, ob das
Hilfszeitwort sainan (=sein) mit ai oder mit ei zu
schreiben ist. Da die beiden Autoren den ei-Laut
jedoch in allen übrigen zimbrischen Wörtern stets durch ai ausdrücken, auch wenn darauf ein Nasal folgt, sehe ich keinen
Grund, bei sainan anders zu
verfahren. Wir schreiben es daher immer mit ai.
Es
gibt auch keinen Grund, bei einem langen und daher verdoppelten Umlaut nur den
ersten der beiden als Umlaut zu schreiben, als ob der zweite nicht umgelautet
wäre. Wir schreiben daher, um klare Verhältnisse zu schaffen und den Leser
nicht zu verwirren, beide gleich; also zum Beispiel schüüran statt schüuran
(=schüren).
Der
zimbrische Laut, der dem schriftdeutschen eu
und äu entspricht, wird bei
MARTAALAR-BELLOTTO teils mit oi,
teils mit oj und teils mit aü wiedergegeben. Wir benutzen stets das
aü, weil es sowohl der zimbrischen
als auch mittelhochdeutschen als auch neuhochdeutschen Tradition sowie auch der
klassischen zimbrischen Aussprache besser entspricht.
7. Quintessenz
Die
Schreibung des Zimbrischen hat durch das System MARTAALAR-BELLOTTO sehr viel an
Vereinheitlichung und getreuer Lautwiedergabe gewonnen, ohne die bisherige
zimbrische Schreibtradition grundsätzlich zu verlassen. Daher folgen wir ihm
selbstverständlich auch in diesem Kurs.
Bei
einigen wichtigen Schreibvarianten waren sich allerdings die beiden Autoren
MARTAALAR und BELLOTTO nicht einig, sodaß wir uns vor die unausweichliche
Notwendigkeit gestellt sehen, zu entscheiden, welchem von beiden wir jeweils
folgen wollen. Dies betrifft vor allem die Zischlaute und das Tobàllarische b.
Eine
überwältigende Fülle von Argumenten, die allesamt in die gleiche Richtung
weisen, zwingen uns gleichsam dazu, erstens die Zischlaute streng nach BELLOTTO
s.str. zu schreiben und zweitens statt des Tobàllarischen b die standardzimbrische v-Schreibung
zu benutzen.
Die
Verwendung des Wörterbuches von MARTAALAR kann den Teilnehmern dieses
Zimbrischkurses empfohlen werden, da sie aufgrund ihrer Kenntnisse des
Schriftdeutschen bei den meisten Wörtern die korrekte Zischlautschreibung nach
BELLOTTO s.str. sowie die standardzimbrische v-Schreibung jeweils erschließen
und sich zumindest mental dazudenken können.
Teilnehmer
eines italienischen Zimbrischkurses ohne umfangreichere Kenntnisse des Schriftdeutschen
hätten diese Möglichkeit nicht und daher würde sie der Gebrauch von MARTAALARs
Wörterbuch allein und ohne sonstige Hilfsmittel bei den Zischlauten und beim
Tobàllarischen b in ein Schreibsystem
führen, das ihnen über 90 % der zimbrischen Literatur verschließt, das nach
keinerlei Regel mehr in die gängige zimbrische Schreibung zurückkonvertiert
werden kann, und das keine Zukunft hat, da es in wenigen Jahren, nach
Erscheinen des großangelegten und voraussichtlich normativen
"Vergleichenden Wörterbuches des Zimbrischen" nur noch als eine
eigenwillige orthographische Episode der Vergangenheit gelten wird.